Nach 16 Monaten auf Reisen

15. November 2019: Zeit ist relativ- tausendmal gehört, ein paarmal selbst gesagt, aber nie wirklich verstanden. Erst jetzt, in unserem fünften Monat in Costa Rica wird mir klar, welche Erkenntnis Einstein in der Relativitätstheorie ausdrückt: Zeit, so die stark vereinfachte Aussage, vergeht langsamer, je schneller man sich bewegt, ist also abhängig vom Bewegungszustand relativ zu einem ruhenden Beobachter. Für uns, die sich beim Aufbruch in Deutschland vor allem gewünscht haben, der Zeit ihr Tempo zu nehmen, ist das Verstehen dieser Theorie ein Meilenstein!

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Warum, haben wir uns so oft gefragt, vergeht Zeit im Alltag so viel schneller, obwohl man so viel weniger erlebt, und sich doch dehnen müsste wie ein Kaugummi? Für uns als Erlebnisjunkies ist das Verständnis von Einsteins Erkenntnis der Schlüssel für unsere Zukunft. Besagt sie doch auf unsere Situation übertragen, dass je mehr wir reisen, je mehr wir erleben, die Zeit immer langsamer vergeht.

So muss es sich für einen ewig mit dem Gewicht hadernden Menschen anfühlen, wenn er erfährt, dass der Schlüssel zum Idealgewicht ist, beim Essen nur ordentlich zuzugreifen, vor allem beim Nachtisch! Wir haben ihn also tatsächlich gefunden, den Knopf, der die Zeit anhält: Immer in Bewegung bleiben, so viel Erleben wie möglich in die zur Verfügung stehende Zeit bringen, und schwupps, hat man das Gefühl von Ewigkeit.

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Obwohl Costa Rica für uns neu und aufregend ist, zieht mit dem Stillstand, dem Aussetzen unserer Reise auch der Zeitfresser wieder bei uns ein. Dadurch, dass wir jeden Tag am selben Ort aufwachen, der grobe Verlauf der Woche schon am Montagfrüh klar ist, uns die Schule den Rahmen vorgibt, zieht auch der Alltag bei uns ein. Tage verschwimmen zu Wochen, Wochen zu Monaten und wir fragen uns, wo bloß die Zeit geblieben ist. Gefressen von Bewegungslosigkeit, das wissen wir nun. In Vancouver, San Francisco und Berkeley haben wir je nur einen Monat verbracht, und doch hat diese Zeit tiefe Spuren in uns hinterlassen. Dass unsere Reise von Deutschland bis San Francisco oder von San Francisco bis Costa Rica dieselbe Zeitspanne ist, wie unsere Zeit hier, ist nahezu unbegreiflich. Der Alltag, Schule, Sprachschule, Physiotherapie, Arbeit haben sich unsere Zeit zurückerobert und sie schwammig werden lassen. Sie ist nicht mehr so verdichtet wie die Reisezeit.

Und doch können wir die Bewegungslosigkeit genießen. Denn, und das ist eine weitere Erkenntnis, wir brauchten genau diese Pause, brauchten Zeit, uns zu besinnen, zu erholen von all den Eindrücken, Muße, die Erkenntnisse sacken zu lassen. So, wie auch Muskeln an Ruhetagen wachsen, ist diese Pause in Costa Rica für uns die Möglichkeit, alles Gelernte, alles Erlebte in uns arbeiten zu lassen und es zu verinnerlichen. Bewegung findet hier in Costa Rica auf einer anderen Ebene statt, von außen unsichtbar, bedeutet, dass auch Alltag ein Luxus sein kann. Viele Fragen, die wir uns in den letzten Monaten gestellt haben, scheinen sich gerade wie von selbst zu beantworten: Wie wollen wir leben? Wie nicht? Was wird in der Zukunft wichtig für uns sein? Wovon wollen wir uns trennen? Wir empfinden eine Freiheit wie schon lange nicht mehr. Alle Blockaden und alles was uns bisher beschwert, beginnt sich aufzulösen. Neue Ideen, Pläne tun sich auf und wir sind voller Vorfreude auf das, was die Zukunft bringt. Deutschland, das zeichnet sich schon jetzt ab, wird noch eine Weile warten müssen.

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Als wir aus Afrika zurückkamen, habe ich gedacht, dass man das Gefühl von Abenteuer auch an einem Ort kultivieren kann, an dem man alles kennt. Ich habe versucht, Dinge anders zu machen, als ich sie normalerweise tun würde, bin vorsätzlich neue Strecken gefahren, habe mir Listen geschrieben, auf denen stand, dass ich jede Woche ein Buch lesen, jeden Monat etwas Neues lernen, täglich etwas anders machen will, als ich es gewöhnt bin. Das Lernen und Neues erleben wollte ich in meinem Leben erhalten und unser Landlebenprojekt hat mir eine Million Möglichkeiten geliefert, dies zu tun. Ein beklopptes Pony erziehen (ist gescheitert), einen Garten anlegen, seine Erzeugnisse verwerten und konservieren, Küken ausbrüten, Lämmchen aufpäppeln, Schweine großziehen, Vorhänge nähen und alten Möbeln wieder neues Leben einhauchen, die Möglichkeiten waren endlos. Und doch bin ich irgendwann unruhig geworden. Weil, wie ich jetzt verstanden habe, die Bewegung im Außen fehlte. Dauerbewegung aber funktioniert auch nicht. Wir brauchen beides, „sowohl/als auch“ und nicht, wie ich so lange dachte, „entweder/oder“. Unser Leben, das haben wir festgestellt, soll auch in Zukunft in Phasen verlaufen, in der sich sesshaft sein und Reisen abwechseln.

Reisen allerdings, das ist ein Gedanke, der uns erst in den letzten Monaten im Zuge der Klimadebatte kam, wird vielleicht in 20 Jahren gar nicht mehr in der Form möglich sein, wie wir es jetzt tun. Die Kinder sagen häufig, dass sie, wenn sie selbst irgendwann  Kinder haben, ihnen auch die Welt zeigen wollen. Wird das möglich sein? Oder werden Klimaveränderung und daraus entstehende wirtschaftliche Not es nicht mehr erlauben? Werden es Unruhen, Wasserknappheiten, Naturkatastrophen unsere Art die Welt zu erleben zu gefährlich machen? Wird die Welt der Zukunft eine sein, die nicht mehr sehenswert ist? Hier in Costa Rica treffen wir Ellen und Harald, der sich beruflich mit dem Klimawandel und Umweltthemen befasst und deren Motivation zu Reisen u.a. die ist, einen Ort zum Leben für Ihre Kinder zu finden, wenn die Klimakatastrophe uns volle Breitseite trifft. Wir wissen, dass sie kommen wird, wir sehen ihre Auswirkungen auf dieser Reise bereits in fast allen bereisten Ländern. Der Luxus, sie in Norddeutschland noch ausblenden zu können, wird nicht mehr lange anhalten und manchmal überfällt mich die schiere Panik bei dem Gedanken daran. Ich ärgere mich über AntiGreta Facebook Posts, Posts die es ihren Sendern ermöglichen, weiterhin ignorant in ihrer Blase zu verweilen und gehe immer öfter offline. Ich ertrage sie nicht mehr die Nachrichten über die Armut unserer Rentner, über die ungerechte Behandlung unserer Bauern, über ungerechte Besteuerungen, darüber, wie unfähig unsere Politiker sind. Sicher, es gibt viel zu verbessern, besser geht immer. Ich würde mir aber wünschen, dass die ewig unzufriedenen Deutschen einmal kurz durchatmen, einmal kurz den Fokus auf das lenken könnten, was alles gut ist. Unser Sozialsystem ist eines der besten der Welt. Wenn wir auf Reisen von unserem Gesundheits- und Schulsystem, von unserem Rentensystem, von Kindergeld, Harz 4 und Wohngeld berichten, davon, dass in Deutschland jedem theoretisch eine Wohnung, eine Ausbildung und ein Job zusteht, dass niemand auf der Straße leben muss, wenn er es nicht wählt, dann bekomme ich zu hören: Ihr müsst die glücklichsten Menschen der Welt sein. Und doch ist Deutschland auf der Liste der glücklichsten Nationen im World Happiness Report 2019 auf Platz 17 von 156 Nationen, Costa Rica ist auf Platz 12, Canada auf Platz 9. Selbst Mexiko mit seinen grausamen Narcokriegen belegt den 23. Platz, El Salvador den 35. Deutschland aber, fällt von Jahr zu Jahr weiter zurück. Die „Kriterien“ für die Messung von Glück in dieser Studie sind unter anderem das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, Lebenserwartung und Korruption (Regierung und Wirtschaft), Dinge bei denen in Deutschland alles im grünen Bereich ist. Warum also fühlen sich die Deutschen immer unglücklicher? Hier in Costa Rica leben die Menschen einfach, sehr einfach. Sie können von dem, was wir Deutschen materiell anhäufen nur träumen. Und trotzdem sind sie froh. Ein Glück, das wir spüren, das uns direkt ins Herz springt. Familie, Glauben, Gemeinschaft und Dankbarkeit sind in Costa Rica feste Bestandteile der nationalen Seele. Wenn man hier jemanden fragt, wie es ihm geht, dann sagt er „Gut, Gott sei Dank!“ Auf keinen Fall möchte ich sagen, dass Religion der Schlüssel zum Glück ist. Was aber zu hundert Prozent das eigene Glücksempfinden in die Höhe kataputiert, ist die Fähigkeit dankbar zu sein. Vertrauen zu können, eine Gemeinschaft zu haben, von der man sich getragen fühlt, in die man sich einbringen kann. Vielleicht haben wir in Deutschland verlernt, Glück zu fühlen, weil wir nie zufrieden sind. Weil es immer mehr sein muss, immer besser sein könnte. Weil jeder seinen eigenen Film fährt, weil anscheinend viele von der Panik ergriffen sind, dass zu teilen uns ärmer macht. Wo doch das Gegenteil der Fall ist.

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Unsere Zeit in Costa Rica geht in die Endrunde, das Jahr neigt sich ebenfalls dem Ende zu. Wir sind erfüllt von Dankbarkeit für die Chance, hier so viel Zeit verbringen zu dürfen, die Batterien wieder aufladen zu können, neue Ideen für unsere Zukunft bekommen zu haben. Das Schönste ist, das auch die Kinder die Dankbarkeitsmentalität angenommen haben. Dass Lotta, trotz der manchmal nicht einfachen Zeit in der Schule sagt, dass sie dankbar für die Challenge ist, für die Möglichkeit zu wachsen und etwas über sich zu lernen.

Costa Rica Nach 1,2,3..Monaten

1 Comment Hinterlasse einen Kommentar

  1. Das Glück liegt in uns selbst, von außen eher selten- an dem Ort an dem wir gerade sind, kann es sein, Perfektion sollten wir nicht anstreben, wir sind nicht perfekt, die Welt schon gar nicht, die Natur, wie wir zerstören, die zeigt uns unsere Fehler auf. Aber sie ist stärker als wir vermuten..

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