Nach 5 Monaten auf Reisen
Dezember ist immer ein anstrengender und emotionaler Monat. Seit Vancouver sind wir erst 4 Wochen unterwegs, haben noch nicht wirklich das Gefühl eine Pause zu brauchen. Da aber sowohl Carl als auch Max Anfang Dezember Geburtstag hatten, weil Weihnachten und Sylvester ist und man an solchen Momenten eher Heimweh bekommt, wollen wir uns diesen Monat an einem Ort ein wenig mehr Zuhause fühlen, wollen streßfrei Geschenke kaufen können, einen Tannenbaum besorgen, das Jahr besinnlich, möglichst ruhig ausklingen lassen, um dann im neuen Jahr wieder durchzustarten.
Auf unserer “Schönste-Städte der Welt Liste” stehen ein paar Städte, bei denen es nicht genügt, nur kurz dort gewesen zu sein. Bei denen wir ein bisschen mehr als die Oberfläche ankratzen wollen, um eine Vorstellung zu bekommen, wie sich ein Leben dort anfühlt. In Kapstadt haben wir gelebt, in Sydney zumindest ich. Wie ein Leben in Vancouver ungefähr wäre, wissen wir auch. Nun ist also San Francisco an der Reihe. Zwar ist ein Monat nicht viel Zeit, reicht gerade um eine Vorstellung von einem Ort zu bekommen. Durch unsere Reisen aber haben wir inzwischen gelernt, uns in kürzester Zeit in einer Stadt zurechtzufinden. Wenn wir müssten, könnten wir uns innerhalb einer Woche an einem völlig fremden Ort ein Alltagsleben erschaffen. Wir lieben dieses Gefühl, einen Ort so zu erobern, aus dem Unbekannten etwas Bekanntes zu machen.
Timm ist der festen Überzeugung, dass er vor 500 Jahren Entdecker gewesen wäre, sich mit dem Schiff um die Welt auf der Suche nach neuen Kontinenten gekämpft hätte. Vor 200 Jahren hätte er sich aufgemacht in die Neue Welt, wäre entweder nach Amerika, Kanada, Australien oder Afrika gegangen, um dort sein Glück zu suchen. In der heutigen Zeit nun ist das Reisen die Möglichkeit, den Pionier in ihm zu befriedigen. Und ich? Mich hat es schon immer weggezogen von dem, was mir vertraut war. Nach dem Abi war Australien gerade weit genug, ich habe Sprachen studiert, liebe fremde Kulturen und nichts in der Welt ängstigt mich so sehr, wie monotoner Alltag, am Montag schon zu wissen, was am Sonntag sein wird. Welch ein großes Glück, dass wir uns getroffen haben, dass wir gemeinsam um die Welt reisen können. Aber die Kinder! Ist es nicht egoistisch, ihnen dieselbe Unruhe einzupflanzen? Ich glaube, das ist gar nicht zu vermeiden. In unserem Bekanntenkreis gibt es unzählige Beispiele dafür, dass die Kinder sich oft automatisch für die Leidenschaften der Eltern interessieren. Die Jungs fußballbegeisterter Eltern, spielen selber Fußball. Ist der Papa Jäger, wird sich scher auch eines der Kinder für den Wald und seine Bewohner interessieren. Ist die Mama Reiterin, wird häufig auch zumindest eine Tochter in ihre Fußstapfen treten, ist Papa Bauer, können die Kinder früh Trecker fahren. Egal welche Interessen oder Leidenschaften Eltern mitbringen, sehr häufig werden die Kinder auf diese geprägt. Bei uns war es das Reisen. Mit 18 Monaten war Lotta das erste Mal in Afrika, hat bis zu ihrem 11 Lebensjahr mehr Zeit dort verbracht als in Deutschland. Paula ist mit zwei Wochen zum ersten Mal geflogen, Carl wurde unterwegs gezeugt und Max hat in den ersten Jahren seines Lebens an keinem Ort so richtig fest gewohnt. Reisen ist schon immer Teil ihres Lebens, ist so normal für sie, wie Trecker fahren für den Bauernnachwuchs. Erst jetzt, nach fünf Monaten unterwegs, gelingt es mir endlich, die ewig kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Eine vegane Stadtmama wird es schrecklich finden, wenn ein Jägersohn seinem Vater helfen kann, ein Wildschwein auszunehmen. Vielleicht wird sie es auch verantwortungslos finden, wenn ein 12jähriger auf dem elterlichen Hof selber Trecker fährt. Es ist aber die Lebensrealität der Kinder, sie haben genau das von ihren Eltern gelernt. Unseren Kindern versuchen wir zu vermitteln, wie man sich die Fremde zum Zuhause macht, wie man es schafft, seine Komfortzone zu erweitern, wie man in der Fremde Freunde findet. So wie sich der Jägersjunge sicherlich mal in den Finger schneiden wird, so wie der Bauersjunge den Trecker an die Scheunenwand setzt, werden auch unsere Kinder zwischendurch scheitern und hadern. Irgendwann allerdings, wenn sie erwachsen sind, werden sie verstehen, dass wir ihnen das Beste mitgegeben haben, was wir zu bieten haben: Unsere Begeisterung für die große weite Welt. Und mit diesem Wissen werde ich nun endlich meinem inneren Kritiker nicht mehr zuhören, der mich immer wieder auf eine “normale” Kindheit verweist, der mir immer wieder versucht weiszumachen, dass eine glückliche, ausgefüllte Kindheit unbedingt eine Geburtstagsfeier im Monat, Klassenfahrten, Laternenumzug und jeden Tag ein Lieblingsessen braucht. Kinder sind so verschieden wie ihre Eltern. Was für den einen ein Albtraum, ist für den nächsten eine kribbelige Herausforderung. Solange aber mindestens 20 Mal am Tag ordentlich gelacht wird, ist alles gut.
Sowohl Carl als auch Max haben ihre Geburtstage trotz fehlender Freunde sehr genossen. Auch wenn die Geschenke deutlich sparsamer ausfielen als sie es gewohnt sind, hat beiden nichts gefehlt. Beide haben recht ausführliche Wunschlisten geschrieben. Carl wünsche sich einen echten Cowboyhut (bitte nicht aus Plastik!), irgendwas von Lego, einen Zitronen- Streuselkuchen, eine Überraschung. Max wollte auch gerne Lego, einen „Chemikliakasten“, eine Überraschung und einen Browniekuchen. An Carls Geburtstag haben wir einen Ausflug nach Chinatown gemacht und sind in die Academy of Sciences geganagen, an Max´s Geburtstag waren wir bei Madame Tussaud San Francisco und im San Francisco Dungeon.
In unserem fünften Monat mussten wir unser geliebtes Kanada verlassen. Auch das gehört zum Reisen dazu: Abschiede. Immer wieder muss man sich von lieb gewordenen Menschen und Orten trennen, manchmal mit dem Wissen, sich nie wieder zu sehen. Das ist eine wichtige Lebenslektion, die man nicht früh genug lernen kann. Wie viel Leid entspringt aus der Unfähigkeit loszulassen. Wie oft bleiben wir stecken, klammern uns an die falschen Menschen, Dinge, Orte, Überzeugungen, einfach weil wir Angst vor einem Abschied haben? Jeder Abschied, so schmerzhaft er ist, bringt aber auch frische Chancen mit sich, öffnet neue Türen. Hat man das einmal verstanden, geht man leichter und mutiger durchs Leben, denken wir.
Der Abschied von Kanada fiel besonders Timm und mir unendlich schwer. Ich habe bisher an vielen Orten gelebt, manchmal nur wenige Monate, manchmal mehrere Jahre. Egal wie sehr ich den Ort mochte, bisher habe ich mich immer ein bisschen fremd gefühlt, überall. In Vancouver hatte ich das erste Mal das Gefühl, an einen Ort zu gehören, voll und ganz in die Lücke zu passen, die genau für mich ausgestanzt wurde. 40 Jahre musste ich warten, einen solchen Ort zu finden- nur um dann nach nur vier Wochen Lebewohl zu sagen. Das tut weh. Und irgendwie auch nicht, denn allein das Wissen, dass es diesen Ort gibt, ist tröstlich, lässt mich dem Fremdsein überall sonst nun viel entspannter entgegentreten. Wir sind unendlich dankbar, die Chance zu haben all diese Lektionen zu lernen. Immer wieder an Grenzen zu stoßen, die wir überwinden müssen, um dann am Ende unsere Komfortzone um ein kleines bisschen erweitert zu haben. Jeden Tag bringt mich das Homeschooling an meine Grenzen.
Und doch sind die nun schon so viel elastischer als noch zu Beginn unserer Reise. Wir wachsen über uns hinaus, nur Mikromillimeter, über viele Wochen kaum spürbar. Bis dann -Bähm!- plötzlich der Durchbruch da ist. Plötzlich kann Lotta ihre Koje sauber halten, Timm Lasagne machen, Carl sich fließend auf Englisch unterhalten, Max mir fehlerfrei einen Liebesbrief schreiben, ich geduldig zum 10 Mal etwas erklären und Paula über all unsere Unzulänglichkeiten hinwegsehen. Sicherlich braucht man dazu nicht verreisen, die Möglichkeit aber, genügend Zeit und Muße zu haben, diese kleinen Schritte bemerken und sich darüber freuen zu können, sind ganz sicher mit dem Reisen und dem ständigen Zusammensein verbunden. Unabhängig von den Orten und Menschen die wir auf dieser Reise treffen, ist das das Wichtigste und das eigentliche Ziel: So viel Zeit wie möglich fern vom Alltag miteinander zu genießen.