Pacific Coast Highway
Teil 1: Der Pacific Coast Highway, der von Washington durch Oregon nach Kalifornien führt, gilt als eine der Traumstraßen der USA. Er schlängelt sich an mit windzerzausten Wäldern bewachsenen Klippen vorbei, durch nebelverhangenen Regenwald. Entlang einsamer Strände mit versteckten Buchten. Er führt uns durch Bilderbuch Fischerdörfer bis in die Stadt aller Städte: San Francisco, unsere nächste Etappe.
Wer in Norddeutschland aufgewachsen ist, dem kriecht ein grauer Tag nicht so schnell in die Seele, manches ist in Grau sogar am allerschönsten: das Meer zum Beispiel. Blauer Himmel und friedliche See sind nett, weiß schäumende Wellen, wolkenzerfetzter Himmel und Wind, der einem die unschönen Bilder aus dem Kopf bläst, sind heilsam. Portland zu verlassen fühlt sich an, wie ein Befreiungsschlag. Lotta, die den Großteil ihres Lebens an sonnigen Orten verbracht hat, sieht das anders. Sie ist extrem schlecht gelaunt, weigert sich, auszusteigen, während ihre Geschwister von der Steilküste in den tiefen weichen Sand springen, Tunnel graben und vor den Wellen weglaufen.
Erst als sie im Oregon Dunes State Park mit dem Quad durch meterhohe Dünen preschen darf, ist sie versöhnt- zumindest für diesen Moment. Nur bis wir Kalifornien erreichen, denn auch hier ist es kalt und regnerisch. Lotta ist absolut unversöhnlich. In Kalifornien zu sein und Regenjacke statt Shorts zu tragen, ist für sie in etwas so, wie für die Kleinen ein Aufenthalt im Disneyland bei Stromausfall. Nichts was in unserer Macht steht, stimmt sie versöhnlich. Sie flucht und zetert unaufhörlich.
In Crecent City finden wir einen Campingplatz direkt am Strand. Normalerweise ein Grund zur Freude. Nicht bei Regen. Während Timm mit den Kindern in die Schwimmhalle geht, kämpfe ich mich durch Wäscheberge. Nichts ist mehr trocken, alles riecht muffig und rauchig. Als ich die erste der 5 Waschmaschinenladungen in die Waschtrommel lade, finde ich Muff und Rauch plötzlich überaus angenehm. Ein durchdringender Aasgeruch schlägt mir entgegen. Ich sehe, wie die Wäsche des Nachbarn aussieht und mir wird klar warum. Das Laken, das er hektisch in die Maschine wirft, sieht aus, als hätte darauf eine Hündin mehrere Jahre lang in regelmäßigen Abständen ihre Jungen zur Welt gebracht. Ich lasse meine Waschmaschine auf 90 Grad mit der dreifachen Waschmittelmenge ohne unsere Wäsche durchlaufen, benutze danach nur diese eine Maschine und bin 6 Stunden beschäftigt. Hier in Amerika scheinen viele RV Parks nicht bloß Campingzwecken zu dienen, sondern ein permanenter Standort für Wohnanhänger und Trailer zu sein, in denen die Bewohner aus Ermangelung einer festen Unterkunft hausen und die Babys ihrer Haustiere zur Welt bringen (oder Bären zerteilen, das allerdings war in Kanada). Anders als wir bisher dachten, ist das nicht auf freiheitsliebenden oder bewusst reduzierten Lebensstil zurückzuführen, sondern entspringt der Not, sich keine Wohnung leisten zu können- die Vorstufe von „homeless“. Wir hatten oft von der Unerbittlichkeit amerikanischer Polizisten gehört und gelesen, dass andere Camper mitten in der Nacht von Parkplätzen vertrieben wurden. Wir waren bisher nicht einem unfreundlichen Cop begegnet. Wann immer wir am Straßenrand gecampt oder gehalten hatten, wurden wir gefragt, ob wir Hilfe brauchen oder ob sie ein Foto machen dürften. Das liegt daran, hatte Dan uns erklärt, dass Roger klar nicht nach „homeless“ aussieht. Allein Dreadlocks unter unseren Strickmützen, Patchouliduft oder Batikshirts hätten ihn davon abgehalten, uns zu sich nach Hause einzuladen. Obwohl dankbar, dass uns Rogers Aussehen so viele positive Begegnungen beschert, bin ich trotzdem erschüttert über diese Klassifizierung, die nicht einmal uns Camper verschont. Und darüber, dass unsere Erfahrungen, kämen wir in einer anderen Verpackung daher, nicht dieselben wären.
Wir scheinen dem Regen nicht entkommen zu können. In Eureka verbringen wir die Nacht auf einem Parkplatz direkt am Meer. Der Sturm schüttelt Roger, es schaukelt wie auf einem Schiff. Die Wellen klatschen ohrenbetäubend ans Ufer und der Regen an die Scheiben. Auch wenn es mit dem brennenden Ofen nicht mehr kalt ist, werden wir die Feuchtigkeit, die in allen Ritzen sitzt, nicht los. Unter den Matratzen wächst der Schimmel, unsere Handtücher sind klamm. Trotz des Sturmes sind am Morgen schon vor Sonnenaufgang Fischerboote auf dem Meer. Als wir um 9 Uhr aufbrechen, kommen die ersten zurück, statt Fischen tragen sie Gewehre. Waren sie Robben schießen? Ich hoffe, dass es sich um Betäubungsgewehre mit Peilsendern handelt, muss aber fast lächeln über meine Naivität. Mir wurde von Nachbarn erzählt, die mit Pfeil und Bogen, den dampfenden Frühstückskaffe neben sich, aus dem Küchenfenster einen im Garten grasenden Hirsch erlegen. Oder die Nachbarshunde aus Spaß erschiessen. Konsequenzen hat das hier nicht. Ein Jagdschein, bei dessen Prüfung umfassendes Wissen über Flora und Fauna abgefragt wird, ist hier nicht notwendig. Für eine Jagdlizenz in Amerika braucht man dieses Wissen nicht.
Ich blicke nach oben, versuche auszumachen, wo der Baumriese endet. Aus 120 Metern klatscht mir schmerzhaft ein Tropfen ins Auge, ich möchte weinen. Ich komme mir so unendlich klein und unbedeutend vor, so vergänglich, neben diesen Bäumen, von denen manche 2000 Jahre alt sind. 60 Menschengenerationen haben sie theoretisch überlebt, werden hier sein, wenn meine Ur-Urenkel längst vergessen sind. Welche ein Trost, dass zumindest etwas in unserer schnelllebigen Welt Bestand hat. Ich stehe vor einen Baum, in den der Blitz eingeschlagen hat. Er ist von innen ausgehöhlt, hat aber überlebt, da die für die Wasser-und Nährstoffversorgung verantwortlichen Schichten verschont geblieben sind. Wenig später sehe ich ein Foto von genau diesem Baum, 1910 aufgenommen. Der Baum, der Wald, alles auf dem Bild sieht genauso aus wie heute. Einzig die Menschen tragen altmodische Kleidung, fahren andere Autos. Im Visitor Center des Nationalparks sehen wir einen Vorfahren von Roger: Ein aus einem einzelnen Baumstamm geschnitztes Reisemobil, auf das Chassis eines Nash Quad montiert. Es ist das größte aus einem einzigen Stamm gefertigte Objekt der Welt und gehörte dem Künstler Charles Kellogg, der damit den nordamerikanischen Kontinent bereiste. Ausgestattet mit einer Küche, einem Waschbecken, einer Toilette, einer Bügelstation, 12 Schrankfächern, einem faltbarem Doppelbett, einem Esstisch, einem Bücherregal, einem Kleiderschrank, fließend Wasser und Strom, sowie ein Gästezimmer mit Einzelbett wog es 6 Tonnen.
Erst als sich das dichte Blätterdach der Mammutbäume lichtet, empfängt uns gleißender Sonnenschein. Endlich ein Hauch von dem Californien, nach dem sich Lotta so gesehnt hat. Bis Mendocino schlängelt sich der Highway in extrem engen Kurven direkt an der Küste entlang. Unter uns der tosende Ozean, zur rechten Seite fallen die Klippen steil ab, werden von der Brandung umspült. Manchmal kann ich den Blick in die Tiefe nicht ertragen, muss die Augen schließen. Nie lange, zu groß ist der Drang, bloß nichts von den grandiosen Ausblicken zu verpassen.
Es ist Sonntag Morgen. Mit dampfendem Morgenkaffee stehe ich inmitten einer Gruppe Einheimischer. Sie alle haben ihren Kaffee in Thermobechern mitgebracht, unter manchen Mänteln blitzen karierte Pyjamahosen hervor. Von der Steilküste aus schauen wir auf den schäumenden Ozean, beobachten eine Rettungsübung der Küstenwache. Über uns kreisen Greifvögel, neben mir steht der Pastor, erzählt von einem jungen New Yorker, der hier vor drei Tagen beim Surfen ertrunken ist. An seinem Geburtstag. Eine zu tragische Geschichte für diesen malerischen Ort.
Mendocino liegt spektakulär an einer windumtosten Steilküste, inmitten unberührter Natur. Pastellfarbene Holzhäuser leuchten mit den Blumen der Vorgärten um die Wette. Kolibris flattern in der Sonne, es summt im Lavendel, riecht nach Frühling. Durch die Äste der vom Wind verbogenen Bäume streicht heute ein warmer Wind. Kunststudios reihen sich entlang der Hauptstrasse, an den Communityboards der Cafes finde ich Flyer die Ziegenyoga und schamanische Heiltierbegegnungen bewerben. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, als nur diesen Vormittag. Ach würde doch San Francisco nicht so übermächtig laut nach uns rufen…