Nach 4 Monaten auf Reisen
Unser vierter Monat war streng genommen kein Reisemonat. Jedenfalls nicht dann, wenn man Reise als “körperlich in Bewegung sein” versteht. Während sich unsere Körper in einem wunderschönen Haus in Vancouvers Stadtteil Kitsilano vom ständigen “in Bewegung sein” erholten, tobte in unseren Seelen ein Hurrikan. Das Besondere am Reisen ist ja nicht das bloße Abklappern von Sehenswürdigkeiten und das Abhaken von Must-Sees, sondern vielmehr das, was das Losgelöst-sein vom Gewohnten mit einem macht. Fern von zu Hause, fern vom Alltag werden die Karten plötzlich neu gemischt, erscheinen Meinungen, Gewohnheiten plötzlich in einem völlig anderen Licht. Das, was gestern festzementiert, kann den Erschütterungen, die das Reisen auslöst, plötzlich nicht mehr standhalten. Das ist nicht immer einfach zu ertragen, kostet Kraft, manchmal die eine oder andere Träne und zwingt einen zum genauen Hinsehen. Glücklich kann sich schätzen, wer in einer solchen Phase einen Ort wie Vancouver findet.
“Alle guten Dinge sind wild und frei”- Eine sehr alte Freundin von mir hat sich diesen Spruch während einer Weltreise tätowieren lassen. Solcherlei Mitbringsel werden von Zuhausegebliebenen oft wohlwollend belächelt, ein wenig von oben herab vielleicht. Es ist unbequem sich diesem absoluten Glück, dieser Welle von Erkenntnissen derjenigen zu stellen, die gerade unterwegs sind und von denen sich das alte Leben schält wie die Rinde von einem Eukalyptusbaum. Sich einen Spruch zu tätowieren scheint pathetisch, darf belächelt werden. Warum eigentlich? Ist es nicht vielmehr ein unbequemes Zwicken, dass sich derer bemächtigt, die sich gerade nicht in einem solchen Zustand gefühlter Freiheit befinden? Ist es nicht viel leichter und bequemer zu belächeln anstatt es als Anstoß zu nehmen, darüber nachzudenken, wo man selber steht?
Des Einen Freiheit, ist des anderen Gefängnis. Eine andere Freundin sagte mir einmal, dass für manche Menschen ein vorhersehbarer, geplanter Alltag die größtmögliche Freiheit bedeutet, weil es Kraft spart, nicht jeden Tag neu entscheiden zu müssen. Weil es Sicherheit gibt, Freiheit, sich nicht sorgen zu müssen. Was bedeutet Freiheit? Ist Freiheit ein Gefühl, das man in sich trägt oder ist es etwas, das man sich hart erarbeiten muß? Ist gefühlte Freiheit trotz Alltag möglich? Für manchen, der sich gerade durch das vorweihnachtliche Getümmel quält, mag das, was wir gerade erleben, der Innbegriff von Freiheit sein. Jeden Tag neu entscheiden, jeden Tag etwas Neues sehen, stehen bleiben wenn es einem gefällt, fahren wenn nicht. Und obwohl die äußeren Umstände dem Ideal von Freiheit ziemlich nahe kommen, konstruieren wir doch selber immer wieder unsere kleinen Gefängnisse, müssen uns dann mühsam wieder freibuddeln.
Mit unserem Umzug von Afrika nach Deutschland hatten wir gehofft, unseren Kindern Freiheiten zu geben, die Ihnen in Afrika verwehrt waren. Hatten gehofft, dass die physischen Freiheiten, die Deutschland ihnen bieten kann, sie zu selbstständigen Menschen heranwachsen lässt. Ein Teenager, so unsere Überzeugung soll frei sein, soll eigene Erfahrungen machen können, nicht aufgrund von Angst vor Kriminalität eingesperrt werden. Wir hatten nicht bedacht, dass physische Freiheiten nur dann eine Bereicherung sind, wenn auch das Umfeld mitspielt. Ein Kind in Freiheit erziehen zu wollen bedeutet, dass man es auch der Gemeinschaft anvertrauen muss. Nicht immer ist sich die Gemeinschaft dieser Verantwortung bewußt, nicht immer geht das gut. Aber auch einen Teenager aus seinem Umfeld zu reißen, ihn seiner Peergroup zu berauben um ihm dann, mit Eltern und kleinen Geschwistern auf engstem Raum eingepfercht, jeden Tag einen neuen Ort vorzusetzen, kann schief gehen. Wir haben zu Beginn unsere Reise einiges an Kritik einstecken müssen, haben gezweifelt, waren verzweifelt. Was ist der richtige Weg? Kleinstadt, Stabilität, soziale Monokultur oder große weite Welt, ständig wechselnde Orte, keine stabilen sozialen Kontakte außer der Familie, permanenten Input?

Für diejenigen, die uns auf unserer Reise begegnen, ist diese Frage einfach zu beantworten. Mehrmals täglich bekommen die Kinder gesagt, dass sie das größte Glück haben, ein solches Abenteuer erleben zu dürfen. Dass sie dies vielleicht erst als Erwachsene vollständig begreifen werden. Neulich, auf einer längeren Fahrt haben wir über das Reisen gesprochen, darüber, was die Kinder daran mögen und was nicht. Lotta sagte, dass sie, sobald sie mit der Schule fertig ist, wieder reisen möchte. Carl sagte, dass er, wenn er Kinder hat, ihnen auch die Welt zeigen möchte und Paula meinte, sie würde unbedingt verhindern wollen, dass ihre Kinder zu “deutschen Kartoffeln” werden, auch sie würde unbedingt mit ihnen reisen. Max ist überall glücklich, wo seine Familie ist und wo wir Zeit haben, mit ihm zu spielen, vorzulesen und zu kuscheln. Genauso wichtig ist aber, da waren sich alle Kinder einig, ein Ort, den man “Zuhause“ nennt, eine Familie und Freunde, die auf einen warten. Man muss sie nicht immer sehen, aber das Gefühl, dass sie da sind wenn man zurück kommt, ist doch wichtig. Für alle Kinder.
Wir haben unsere Hochs, himmelhochjauchzende Hochs, aber auch Tiefs. Momente in denen wir alles in Frage stellen. Besonders ich. Mehr als Timm nehme ich Schwingungen auf, oft beeinflussen sie meine Gefühle. Leidet eines der Kinder, leide ich. Nicht immer gelingt es mir dann, das große Ganze zu sehen, mich nicht vom Moment entmutigen zu lassen. Umso wichtiger sind dann die flüchtigen kleinen Momente, die uns zeigen, dass wir genau das Richtige machen: Wenn Max Carl den Arm um die Schulter legt und “I love you, Bro!” sagt, wenn Lotta mutig die Schultern strafft, durch den Eingang der riesigen Highschool marschiert, in der sie vielleicht allein am Mittagstisch sitzen wird. Wenn Carl Timm zur nächsten Tankstelle navigiert, wenn Max innerhalb von Minuten Freundschaft mit völlig fremden Kindern auf dem Spielplatz schließt. Wenn Paula vor der versammelten Klasse ein Referat über unsere Reise auf Englisch halten kann, wenn Max beim Verstecken spielen plötzlich auf englisch bis 100 zählt. Wenn die Kinder abends heimlich ihre iPods verkabeln um gemeinsam ein Hörspiel zu hören, obwohl wir es verboten haben. Wenn Lotta gedankenverloren an Max Haaren schnuppert, Carl auf Paulas Schoß einschläft. Es gibt sicher 100 Mal am Tag Streit, aber mindestens doppelt so viele besonders schöne Momente. Wenn wir uns zur Gewohnheit machen, ihnen mehr Gewicht zu verleihen, dann können wir nur zu einem Entschluss kommen: Wir sind sowas von auf dem richtigen Weg!
Vieles, was uns in den letzen Jahren selbstverständlich erschien, hinterfragen wir. Macht es Sinn, so viel Lebenszeit damit zu verschwenden, seine Besitztümer hin und herzuschieben? Brauchen wir all das, was uns in unserem täglichen Leben umgibt? Gibt es Beziehungen, aus denen wir herausgewachsen sind und die zu erhalten mehr Energie kostet als sie uns jemals geben können? Wie wollen wir die wertvolle Zeit, die uns mit den Kindern bleibt verbringen, was ist wirklich wichtig? Diese Fragen werden uns sicher die nächsten Monate begleiten, gehören dazu, wenn man von seinem Alltag losgelöst leben kann, nicht immer allerdings ist es einfach, sich einzugestehen, dass man hinsehen muss. Trotzdem sind wir unendlich dankbar für die Möglichkeit, Abstand vom Alltag zu haben und einen frischen Blickwinkel zu bekommen, die Chance zu haben, die Karten neu zu mischen.
Nachdem uns zum Ende des dritten Monats ein bisschen die Puste ausging und wir alle Sehnsucht nach einer Pause hatten, war der Aufenthalt in Vancouver die reinste Frischzellenkur. Pause vom Reisen, normales Leben inclusive Schule und gleichaltrigen Freunden hat uns die Akkus wieder aufgefüllt. Zunächst hatten wir geplant, nur zwei Wochen Reisepause einzulegen, hatten über AirBnB ein Haus gemietet, um uns einmal wieder richtig auszuschlafen, ein bisschen Platz zu haben, dem Regen nicht so ausgeliefert zu sein. Das Haus lag genau gegenüber einer Grundschule und während des Homeschoolings hörten unsere Kinder die anderen Kinder in der Pause spielen. Wir hatten eine längere Pause, eventuell mit Schulbesuch erst in San Francisco eingeplant, gingen aber auf Bitten der Kinder am Ende der ersten Woche zur Direktorin der Grundschule und fragten, ob die Kinder als Gastkinder einmal in den Schulalltag hereinschnuppern könnten. Sehr gern, kam noch am selben Tag eine Email zurück. Plötzlich waren alle Türen offen, alles lief wie von selbst. Die Highschool wollte Lotta gern aufnehmen, der Vermieter freute sich, unseren Mietvertrag zu verlängern, der Regen verschwand und wir hatten einen phantastischen Indian Summer. Obwohl für alle Kinder eine riesen Überwindung, hatten sie am Ende der ersten Schulwoche alle Freunde, mit denen sie sich nachmittags verabreden konnten, waren voll integriert. Max wurde sogar schon wieder frech, ein Indikator, dass er sich wohl fühlte. Für Lotta war es schwieriger als für die drei Kleinen, da es in der Highschool keinen Klassenverband sondern ein Kurssystem gab, sie in jeder Stunde neue Mitschüler hatte. Trotzdem ging sie jeden Morgen tapfer in die Schule, stellte sich dem größten Teenageralbtraum: Als Neue in eine riesige große Schule zu kommen, in der nicht die Muttersprache gesprochen wird. Zu sehen, wie tapfer und mutig sich die Kinder dem neuen Umfeld stellten, wie schnell es Ihnen gelang Teil der Gemeinschaft zu werden und wie glücklich sie dabei waren (zumindest die drei Kleinen, für Lotta war nicht immer alles so rosig), war phantastisch. Auch Timm und ich wurden von der Elterngemeinschaft mit offenen Armen aufgenommen, fanden Menschen, denen wir uns in kurzer Zeit so verbunden fühlten, als wären wir schon ewig befreundet. Jeder, wirklich jeder, dem wir begegneten schien uns Türen bereitwillig zu öffnen. Die Versuchung, einfach zu bleiben war riesig, hätte, außer für die Kinder ein Studentenvisum beantragen zu müssen keine weiteren Hürden bedeutet. Unser Vermieter hätte uns das Haus auch dauerhaft vermietet, in den Schulen wäre Platz gewesen, wir hätten uns in Vancouver mehr als wohl gefühlt. Und trotzdem fahren wir weiter. Schweren Herzens! Weil wir müssen, weil die Reise das Ziel ist, weil wir noch am Anfang stehen und noch so viel auf uns wartet. Und doch wissen wir, dass es nun einen weiteren Sehnsuchtsort gibt, den wir jeden Tag vermissen werden.
Am Anfang unserer Zeit in Kanada hatte ich Angst, dass Kanada als das Land, auf das ich mich am allermeisten gefreut habe, meinen Erwartungen vielleicht nicht standhalten könnte, und nun sitze ich hier und bin herzgebrochen, weil wir weiter müssen. Kanada hat meine und Timms Erwartungen in Allem bei Weitem übertroffen, ist einer der Orte, an dem die Kinder später einen Teil unserer Asche verstreuen sollen.
Pausen vom Reisen, das haben wir auch in Afrika gemerkt, sind wichtig, um nicht auszubrennen. Auch Reisen kann zum Hamsterrad werden, holt man nicht zwischendurch Luft. In Afrika hatten wir ebenfalls nach 3 Monaten unsere erste lange Pause, blieben vier Wochen in Dar Es Salaam, wären ebenfalls fast geblieben und haben, genau wie jetzt in Vancouver, das Gefühl, dort wirklich gelebt zu haben. Es kostet viel Kraft, dem Bedürfnis nach Bleiben nicht nachzugeben, hat sich aber damals bewährt und wir hoffen, dass es das auch dieses Mal wieder tun wird.
Quel beau voyage et quelle belle famille. Bonne continuation.
Merci beaucoup, Guy! Bisou