Raft Cove, Vancouver Island
In engen Kurven windet sich der schmale Pfad durch den dichten Wald. Um mich herum wachsen Farne zwischen den moosüberwucherten Baumstämmen, Beerensträucher, dichtes Gestrüpp. Nur ab und zu scheint spärlich Licht in diesen grünen Tunnel durch die Baumwipfel. Der Boden ist nur schwer zu erkennen, ist stellenweise aufgeweicht von Regen der letzten Tage, durchzogen von Baumwurzeln. Ich muss aufpassen wo ich hintrete.
“Bear, bear go away, do not mess with meeee…”, mehr um mir selber Mut zu machen singe ich laut vor mich hin. Als Paula noch keine 2 Jahre alt war, hat sie sich vor meinem Gesang die Ohren zugehalten und “Nein, Angst!” gebrüllt, ich hoffe dieselbe Wirkung hat mein Lied auch auf eventuell im Busch versteckte Schwarzbären. Ich weiß, dass sie hier irgendwo im Gebüsch sitzen, dutzende lila Haufen mit kleinen Körnchen verraten, dass sie hier einen reichlich gedeckten Tisch vorfinden. Den ganzen Tag haben wir am Strand einer einsamen Bucht im Raft Cove National Park, an der wilden Nordspitze von Vancouver Island verbracht. Während ich nun zurück zu Roger gehe, um das Abendessen vorzubereiten, genießen Timm, die Kinder und Gigi die letzen unverhofften Sonnenstrahlen. Der Wetterbericht hatte Regen vorausgesagt, wieder einmal hatte der Mann in der gelben Regenjacke überraschend Sonnenschein in unser Leben gebracht. Eigentlich war Gigi 500 Kilometer entfernt, am südlichen Ende von Vancouver Island gewesen. Als er hörte, dass wir viel früher als erwartet auf der Insel ankommen würden, war er unserer Einladung gefolgt und den ganzen Weg in unsere Richtung gefahren um mit uns ein Wochenende in der Wildnis zu verbringen und um unser Gästebett einzuweihen.
Wir campen auf dem Ende einer alten Loggerstraße, am Rande einer Lichtung, auf der sich die Natur die Mondlandschaft, die die Logger zurückgelassen haben, zurückerobert hat. Die Brücke am Ende der Straße wurde weggespült, stattdessen türmen sich Treibholzbaumstämme übereinander, bilden ein gigantisches Klettergerüst, auf dem die Kinder stundenlang spielen, über das sie an den Strand klettern können. Es ist schwer vorstellbar, welche Kräfte hier wirken müssen, wenn der tobende Pazifik ganze Baumriesen wie Streichhölzer übereinanderstapelt.
Den ganzen Tag haben wir damit verbracht, einen Totempfahl aus Treibholzstämmen am Strand zu errichten und ihn mit Wachsstiften und Innenfarbe zu bemalen.
Aus der Ferne trägt der Wind das Lachen und Kreischen der Kinder zu mir herüber und erinnert mich daran, dass ich mich beeilen muss, noch bevor es ganz dunkel ist, das Essen fertig zu haben. Ich werde dann noch einmal, dann mit Taschenlampen und Bärenspray bewaffnet diesen Weg gehen müssen, um sie abzuholen.
Jedes Knacken, jeder Schatten scheint bedrohlich und ich bin erleichtert, als ich den 10 minütigen Marsch hinter mir habe und endlich auf der Leiter stehe um die Tür zu Rogers Wohnkoffer aufzuschließen. Ein prüfender Blick über die Lichtung allerdings lässt meinen Herzschlag ein paar Sekunden aussetzen. Ungefähr 100 Meter von mir entfernt steht ein Schwarzbär auf einem quer liegenden Baumstamm, schaut zu mir herüber. Er ist groß, schon etwas weiß um die Schnauze, scheint sich in meiner Gegenwart nicht unwohl zu fühlen. Ich kann diese Gefühl nicht erwidern. Mit Bärenhupe und Fernglas bewaffnet bin ich in wenigen Momenten zurück. Ich hupe was das Zeug hält, den Bären stört das wenig. Gemächlich sucht er weiter nach Waldbeeren. Ich beginne zu kochen, lasse vorsichtshalber die Fenster zu, in der stillen (etwas dämlichen) Hoffnung, dass er dann weniger versucht ist, näher zu kommen. Immer wieder werfe ich zwischendurch einen Blick auf ihn. Als das Essen fertig ist, steht er noch immer auf der Lichtung. Eigentlich müsste ich nun Timm, Gigi und die Kinder holen, mich mit Taschenlampen und Bärenspray bewaffnet allein auf den Weg durch den inzwischen dunklen Wald machen. Unmöglich! Wie aber soll ich die anderen benachrichtigen und warnen? Der Gedanke, dass sie den dunklen Waldpfad ohne Lampen zurückkommen, dass Timm vielleicht die Kinder vorwegrennen lässt, schnürt mir den Hals zu. Eine Weile drehen sich meine Gedanken panisch im Kreis, erst als dem Karussell der Schwung ausgeht, kann ich wieder klar denken. Ich klettere in Rogers Fahrerkabine und hupe. Der Klang der Hupe erschreckt mich, obwohl ich auf den Lärm vorbereitet bin. Die Morsezeichen von SOS kann ich nicht erinnern, bezweifle aber eh, dass die am Strand Gebliebenen sie entschlüsseln können. Ich hupe was das Zeug hält. Den Bären stört das wenig, aber ich hoffe, dass Timm die versteckte Nachricht versteht: Wenn ich nicht, wie verabredet zurück zum Strand komme, sondern bei Roger bleibe und hupe, gibt es dafür einen Grund. Einen, der mich davon abhält, allein zurück zum Strand zu gehen.
Als ich endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit die laut singenden Stimmen von Gigi und den Kindern nicht vom Waldpfad, sondern von den Treibholzstämmen, die ebenfalls zum Strand führen, kommen höre, weiß ich, dass sie mich verstanden haben. Sicherheitshalber rufe ich mehrmals “Achtung Bär!” in ihre Richtung, gehe ihnen, nun mutiger mit der Taschenlampe entgegen. Von Weitem leuchten mir zwei Treibholzfackeln entgegen, die Timm am Strand angezündet hat, sie alle sind mit Knüppeln und Steinen bewaffnet und nicht das reinste bisschen beunruhigt. “Man Mama, Papa hat doch ein Messer, du musst Dir wirklich keine Sorgen machen!” sagt Carl, als ich ihn endlich erleichtert in die Arme schließe. Meine Kinder sind eindeutig mutiger als ich!
Eine Stunde später blicke ich dankbar in sechs zufriedenen Gesichter. Das Treibholzfeuer, das wegen des enthaltenen Salzes so viel gelber brennt als ein normales Feuer, lässt Schatten über den Strand tanzen, Gigi singt zu den Klängen seiner Gitarre. Wir sind wieder zum Strand gegangen, auch dieses Mal lieber über die Treibholzstämme geklettert statt durch den Wald zu gehen. Obwohl ich weiß, dass wahrscheinlich einige Bären durch die Dunkelheit um uns herum stromern, bin ich dieses Mal entspannt. Der alte Bär hat sich nicht von unserem Radau verscheuchen lassen, ist aber auch nicht näher gekommen. Wir sind weit entfernt von der Zivilisation, die Bären sind noch nicht daran gewöhnt, dass es bei Menschen einfach zu holendes Essen gibt, sind noch wild. Sie haben keine Angst, weil sie vielleicht noch keine schlechte Erfahrung gemacht haben, sind aber scheu genug um Abstand zu halten. So lange wir keinen Bären überraschen, weil wir plötzlich vor ihm stehen, wenn wir ihnen genug Platz zum Rückzug lassen, sind wir sicher. Im Notfall haben wir nun immer das Bärenspray, ein sehr hoch konzentriertes Pfefferspray in einem Behältnis, das aussieht wie ein Feuerlöscher, dabei.
Wir werden in den nächsten Tagen noch einige Bären sehen, da aber die Kinder jedes Mal in der Nähe sind und ich sicher sein kann, dass ihnen nichts passiert, kann ich die Begegnungen nun genießen.
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