Island Life: Vancouver Island, Denman und Hornby Island
Anfang Oktober 2018: Zäher Nebel kriecht über den Buttle Lake im Strathcona Provincial Park. An seinem Ufer windet sich seit vielen Kilometern die Straße entlang. Auf der anderen Seite ragen moosbewachsene Felsen in den Himmel, Farne filtern das Nass aus der Luft. In Rinnsalen fließt es über die Straße zurück dahin, wo es hingehört: in den See. Pilze verschiedenster Farben und Formen glänzen schleimig und feucht, rotzgelbe Blätter hängen schlaff von den Bäumen. In regelmäßigen Abständen weisen Schilder die Trucker darauf hin, den Funkkanal zu wechseln, Handyempfang hatten wir seit Tagen nicht mehr. Am Straßenrand erinnert ein vergessenes Paar Canvasschuhe an den Sommer. Ich fühle mich verlassen und allein- bis Timm rechts ran fährt und wir von einem nicht enden wollenden Autocorso überholt werden.
Täglich wird es kälter. Wir schrappen am Ende der Saison entlang, nach uns wird überall geschlossen, wir sind immer die Letzten. Obwohl wir die 10.000 km Marke überschritten haben, einen Grund zur Freude hätten, ist die Stimmung im Auto so matt wie das fahle Licht vor dem Fenster. Wir haben es satt, dass jeden Morgen „Grau“ der erste Eindruck des Tages ist, dass das Morgenpipi in der Kloschüssel dampft. Roger scheint genau wie wir die Faxen dick zu haben, springt am Morgen schwer an, quält sich mühevoll und rußend die Berge hinauf, scheint erst versöhnt, als endlich die Sonne den Nebel besiegt, uns ein paar Tage zumindest stundenweise mit Licht verwöhnt.
Wir verlassen wir den Highway, fahren 200km über unbefestigte Holzfällerpisten, die jemand (in Anlehnung an den „Tree to Sea- Highway“) „Tree to see Highway“ getauft hat, und sehen, wie angekündigt, hauptsächlich Bäume. Ab und zu lichtet sich der Wald, gibt den Blick frei auf gigantische Flächen, die aussehen, als sei ein Riese Amok gelaufen. Baumleichen türmen sich übereinander, faulen ungenutzt vor sich hin, Wurzeln liegen verstreut oder zu Scheiterhaufen aufgetürmt. Jedes Mal krampft mir der Magen, wird mein Herz bleischwer. Es ist ein Kriegsschauplatz: Harvester gegen Wald. Mir fällt es schwer, ein System hinter dieser Zerstörung zu erkennen.

Kanada zählt zu den waldreichsten Ländern der Welt, besitzt etwa 11% der weltweiten Waldflächen, von der es etwa die Hälfte wirtschaftlich nutzt. Neben der Produkton von Bauholz wird ein Großteil des Holzes für die Papier-, Zellulose- und Pappherstellung verwendet. Angeblich ist Kanada ein Vorzeigeland für nachhaltige Waldwirtschaft: Holzfirmen agieren nur unter strenger Kontrolle durch die Forstwirtschaftsbehörden und müssen sich strikten Aufforstungsprogrammen unterwerfen. Ich wünschte, ich könnte das glauben. Auf langen Autofahrten habe ich in letzter Zeit den Kindern aus Peter Wollebens Buch „Das geheime Leben der Bäume“ vorgelesen, in dem der Förster beschreibt, auf welche Weise diese miteinander kommunizieren, sich gegenseitig unterstützen und vor drohenden Gefahren warnen. Allein die Vorstellung der „Baumgespräche“ beim Eintreffen der Harvester jagt mir Schauer über den Rücken. Wir beschließen, neben dem Plastikkonsum in Zukunft ebenfalls unseren Papier- und Holzverbrauch einzuschränken.
Doch schon der nächste Einkaufsstop macht dieses Vorhaben wieder zu Nichte. Ich bin mit einem Nervensystem ausgestattet, das schnell an Reizüberflutung leidet. Einkaufen ist für mich ein Albtraum, Walmart die Hölle. Am Eingang stehen leihbare Elektrorollstühle mit Einkaufskörbchen, fast erwarte ich Zebrastreifen und Stoppschilder, um den Verkehr in diesem riesigen Markt zu regeln. Hier ist niemand darauf eingerichtet, dass wir keine Plastiktüten wollen, wir bringen das ganze System durcheinander, die Kassiererin ist überfordert mit dem Einpacken und so greifen wir doch wieder zu den Tüten, die wir dann als Mülltüten verwenden. So tief wie der Grand Canyon ist die Grummelfalte auf meiner Stirn, als ein alter Mann lächelnd auf uns zuhumpelt. „Oh nee, nicht auch noch reden jetzt!“, denke ich mir, lächele aber trotzdem tapfer zurück. Mich würdigt der Herr keines Blickes. Genau vor Carl bleibt er stehen: “My Mum used to say, a face without freckles is like a nightsky without stars“ (Meine Mutter sagte immer, ein Gesicht ohne Sommersprossen sei wie ein Nachthimmel ohne Sterne). Und dann dreht er sich um und geht. Ohne ein weiteres Wort. Wer Carl kennt, weiß, dass er seine Sommersprossen hasst, dass er nicht mag, durch sie aufzufallen. Dieser Satz aber hat alles verändert.
Vancouver Island ist die größte Pazifikinsel Nordamerikas, etwa 100km breit und 450km lang. Überschaubar, könnte man meinen. Und doch dauert es ewig von A nach B zu kommen. Zum Glück. Der Norden der Insel ist spärlich besiedelt, im Süden befinden sich die Touristenorte, an denen die Hipster in zur Ponchofarbe abgestimmten Gummistiefeln mit dem zum Bart passenden Hund die Strände mit „Coffee to Go“ Bechern flanieren, ihr Essen in den „Eateries“ fotografieren und auf Instagram posten. Wo Surfereltern ihren Nachwuchs bei 7 Grad in kalten Prielen spielen lassen, um sie abzuhärten für das Leben als Nachwuchssurfer. Tofino ist das St. Peter Ording von Canada und leider genauso überlaufen. Es ist das kanadische Thanksgiving Wochenende, das anders als das amerikanische Thanksgiving im Oktober gefeiert wird. Ein Campingplatz ohne Strom kostet $70 die Nacht, die Duschen $2 pro 1,5 Minuten.
O.K für eine Nacht, dann aber zieht es uns weiter an das Südende des Pacific Rim National Parks, nach Ucluelet.
Die kleine, etwas uncoolere Schwester von Tofino ist wilder, ursprünglicher, weniger überlaufen und genau das, wonach wir suchen, bevor wir nach einem Abstecher nach Denman und Hornby Island mit der Fähre nach Vancouver fahren.