Nach 20 Monaten auf Reisen: gestrandet in Ecuador/Ibarra

 ( 19. März 2020) Ohrenbetäubendes Vogelgezwitscher reißt mich aus einem tiefen traumlosen Schlaf. Vor meinem Fenster schwirren Kolibris zwischen den gelben Blumen einer Hecke, für die ich noch keinen Namen habe. Für vieles fehlen mir derzeit die Worte. Die Spitze des Hügels vor dem Fenster ist in milchigen Dunst gehüllt, eine Agavenblüte zeichnet scharfe Schatten auf diese graue Leinwand. Es ist still. Ich höre nichts außer den Vögeln, dem leisen Tropfen vom Morgentau von den Blättern der Hecke. Seit Tagen habe ich kein Auto mehr gehört, seit Tagen keine störenden Kratzer im himmelblau gesehen. Die Welt steht still. Hier, wie auch an vielen andren Orten. Unfassbar, dass ich nur vor einem Monat darüber geschrieben habe, wie sich Glück anfühlt und wie man selbst verantwortlich dafür ist, es sehen zu können. Wie naiv, wie rosarot, wie weltfremd scheint mir dieser Text gerade jetzt.

Nur wenige Stunden vor dem totalen Grenzschluss haben wir es geschafft, nach Ecuador einzureisen. Nun sind die Grenzen zu, niemand, nicht einmal heimkehrende Ecuadorianer dürfen das Land ab jetzt betreten. Corona, bisher als Hersteller für Badezimmerarmaturen bekannt, ist auch hier angekommen. Wir haben auf diversen Overlanderforen von der „Finca Sommerwind“ gelesen. Im Norden Ecuadors, nahe der Stadt Ibarra hat Hans, ein Expatdeutscher ein Paradies für Overlander geschaffen. Bis hier haben wir es geschafft, gerade eben.

Ibarra, auch die „weiße Stadt“ genannt, liegt 115 m nördlich von Quito, auf 2200m in den nördlichen Anden Ecuadors. 1606 von den Spaniern gegründet, gilt sie mit ihren verwinkelten Straßen, den weiß getünchten Kolonialbauten als eine der hübschesten Städte Ecuadors. Die Finca Sommerwind liegt außerhalb der Stadt inmitten eines malerischen Bergpanoramas am Ufer der Laguna Yahuarcocha (Yahuar: Blut, cocha: See). Der Name des Sees geht zurück auf eine Schlacht im späten 14 Jahrhundert, in deren Folge die siegenden Inca tausende männliche Mitglieder des unterlegenen Stammes der Caranqui massakrierten und ihre Leichen im See entsorgten, der sich infolgedessen rot verfärbte.

Wir sind die ersten von weiteren 30 Overlandern die in den folgenden Tagen hier eintrudeln, um Schutz bei Hans zu suchen. Jeder bringt neue Geschichten und Nachrichten mit, die Ereignisse überschlagen sich.

Nach unserer ersten Nacht auf der Finca Sommerwind teilt Hans uns mit, dass wir ab Morgen unter Quarantäne stehen werden, dass das Gesundheitsministerium kommen wird, um uns zu untersuchen, dass ab morgen alle Geschäfte geschlossen haben werden und nur noch Supermärkte und Apotheken geöffnet sein dürfen. Wir haben absolut keine Ahnung, wie es um die Infrastruktur in Ecuador beschaffen ist, fahren noch am Morgen los und kaufen für einen Monat Lebensmittel ein, füllen unsere Gas-und Dieselvorräte auf, ziehen so viel Geld aus dem EC Automaten wie unser Tageslimit erlaubt. In der Stadt, die erstaunlich aufgeräumt scheint, ist nichts von Coronapanik zu spüren. Einige wenige tragen Schutzmasken, die Schlangen im Supermarkt sind länger als gewöhnlich, die Einkaufswagen und Hände der Kunden werden im Laufe des Einkaufs und während des Bezahlvorgangs mehrmals desinfiziert. Ansonsten ist die Atmosphäre freundlich, entspannt, keine Spur von Hamsterkäufen wie wir es aus Deutschland hören. Wir schämen uns ein wenig für unsere 4 Einkaufswagen, teilen uns in zwei Gruppen auf, um an der Kasse keinen allzu langen Stau zu verursachen.

Am Nachmittag dann, als wir noch damit beschäftigt sind, unsere Einkäufe in der neuen Speisekammer- der eigentlichen Garage des Quads- zu verstauen, kommen das erste Mal die Ärzte des Gesundheitsamts zu uns auf die Finca. Sie messen unsere Temperatur, die Sauerstoffsättigung des Blutes, unseren Blutdruck, horchen unseren Herzschlag und gucken uns in den Mund. Viele der Neuankömmlinge haben mit der Höhe zu kämpfen, haben einen zu hohen Blutdruck. Wir alle haben Kopfschmerzen, sagen davon aber natürlich nichts.

In den Folgetagen überschlagen sich die Ereignisse. Jeden Nachmittag um 15 Uhr treffen wir uns im Café des Campingplatzes, um Neuigkeiten von Hans zu erfahren. Normalerweise tummeln sich hier am Wochenende Scharen von Ausflüglern, jetzt sind wir die einzigen Gäste. Wie viele andere musste auch Hans dieses Café und das in der Stadt schließen. Überall in Lateinamerika schließen die Grenzen, von allen Seiten häufen sich die Geschichten gestrandeter Overlander. Was ist mit der Importgenehmigung für die Autos? Normalerweise sind sie nur 3 Monate gültig, ebenso wie das Visum für Ecuador. Überzieht man, kostet das US$300/Tag. Was geschieht mit den Autos, wenn man einen der Rescueflüge ergattert, woher bekommt man die Papiere für mitreisende Haustiere? 1000 Fragen auf die zunächst niemand eine Antwort hat und um die zu beantworten, Hans Stunden am Telefon verbringt.

Nach etwas mehr als einer Woche herrscht Klarheit: Unsere Importgenehmigungen und Visas sind so lange gültig, wie die Krise anhält. Diejenigen, die das Land mit den Rescueflügen der Botschaften verlassen wollen, können ihr Auto bei Hans stehen lassen und so die Importgenehmigung „einfrieren“, ohne Strafe zahlen zu müssen. Als das geklärt ist, beginnen die Diskussionen um Heimflüge, wer wann wohin fliegt, wie man sich auf die Listen einträgt, ob deutsche Rettungsflüge auch Schweizer mitnehmen und umgekehrt. Auch wir sprechen über die Option nach Hause zu fliegen. Die meisten anderen Overlander auf der Finca Sommerwind sind entweder nicht mehr berufstätig und somit flexibel oder wären eh in den nächsten Wochen nach Hause geflogen. Wir können absolut nicht absehen, wie sich diese Krise entwickeln wird, wir haben keine Ahnung wie Ecuador auf eine Pandemie vorbereitet ist, wie hier die Versorgungslage ist und ob der soziale Frieden stabil ist. Letztes Jahr im Oktober war das ganze Land für zwei Wochen lahmgelegt, weil der Präsident die bis dahin subventionierten Benzin- und Dieselpreise angehoben hat. Auf den Straßen herrschte Ausnahmezustand. Wie sicher ist es hier während einer Pandemie? Wir rufen, wie so oft, den Arzt unseres Vertrauens, Max‘ Patenonkel an, der Infektiologe ist und ebenfalls mit Coronapatienten arbeitet. Für Kinder ist der Virus nicht gefährlich, die husten ihn zumeist einfach weg und auch wir könnten die Gefahr durch den Virus vernachlässigen. Wir sollen uns von Menschen fernhalten, oft die Hände waschen, gesund essen und ausreichend schlafen. Wir sprechen mit den Kindern, fragen sie, ob es nicht besser wäre, Roger hier stehen zu lassen und nach Deutschland zu fliegen. Verständnislosigkeit in ihren Gesichtern. „Warum?“

„Naja, alle anderen kümmern sich um Rettungsflüge nach Europa, vielleicht ist das unsere letzte Chance, hier für lange Zeit wegzukommen.“

„Wir machen doch nie, was alle anderen machen!“ Und damit ist die Diskussion für die Kinder erledigt. Timm und ich sprechen noch viel, wiegen das für und wieder ab. Trotz der Ungewissheit, was uns hier erwartet, haben wir beide das Gefühl, dass es noch zu früh ist, aufzugeben. Würden wir jetzt zurück nach Deutschland fliegen, wäre das ein Abbruch der Reise. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in der Zeit, die uns zum Reisen noch bleibt, nämlich 2020, wieder zu Roger zurückkehren können, ist sehr gering. Bevor Europäer wieder nach Südamerika dürfen, werden sicher die Grenzen innerhalb Südamerikas wieder aufmachen. Und was würden wir in Deutschland tun? Zu Hause sitzen und warten, genau wie hier. Für uns bedeutet ein Heimflug nicht nur den Abbruch einer Reise, sondern den Abschied von einem Lebensmodell. Wir sind als Familie trotz all der Schwierigkeiten in den letzten Monaten so glücklich wie noch nie gewesen, würden unser derzeitiges Leben ungern eintauschen.

Timm und ich sitzen auf der Dachterrasse einer der Cabañas auf Hans‘ Grundstück, blicken über die blau schimmernde Wasseroberfläche der Lagune in der sich zwei Vulkane spiegeln.

IMG_8318

„Fast wie Zuhause“, sage ich, denke an unseren Steg, an den See, an den unser Grundstück in Deutschland grenzt.

„Hm, und Löwenzahn und Holunder wachsen hier auch…“

„Was denkst Du?“, möchte ich wissen.

„Dass Löwenzahn, Holunder und ein See vor der Tür reichen, um mich hier zuhause zu fühlen“ ist Timms Antwort. Uns beiden geht es ähnlich. Beide können wir uns nicht vorstellen, jetzt aufzugeben und zurück in die Heimat zu fliegen. Wir bleiben! Und hoffen, dass es die richtige Entscheidung ist. Am Horizont steht ein riesengroßes Fragezeichen. Aber lieber ein Fragezeichen als ein Punkt.

Ecuador Nach 1,2,3..Monaten

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