Flucht aus Kolumbien
Es gibt Momente, da kann sich der Eiffelturm hinter meiner Furcht verstecken. Genau jetzt ist so einer. Wir sind den ganzen Tag der Panamericana durch das landschaftlich reizvolle Valle de Cauca gefolgt. Dicht bewachsene Hügel, Baumwollfelder, schäumende Flüsschen, hübsche Dörfer. Aber immer wieder auch Militärkontrollen, aufgestapelte Sandsäcke am Straßenrand hinter denen blutjunge Soldaten stehen, salutieren. Wir werden nicht angehalten, andere allerdings haben weniger Glück und ihr Gepäck stapelt sich am Seitenstreifen unter den gezückten Schnellfeuerwaffen der Militärs. An den Straßenrändern Gruppen ausgemergelter, in Lumpen gekleideter Menschen, die ihr in Plastiktüten verpacktes Hab und Gut in ausrangierten Kinderwagen durch den Unrat schieben. Ein kleiner Junge trägt links einen Flipflop, rechts einen Schnürschuh, drei Nummern zu groß. Es sind Flüchtlinge aus dem bürgerkriegsgeplagten Venezuela auf dem Weg nach Ecuador oder zurück nach Kolumbien. Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir Pasto, die Hauptstadt des Departamientos Nariño. Dieses Departamiento ist auch heute noch das Hauptanbaugebiet von Kokain, gilt als berüchtigtes Sammelbecken für Narcos, Guerillas und Paramilitärs. Besonders das westliche Tiefland ist mit Antipersonenmienen kontaminiert, die Zivilbevölkerung gerät immer wieder zwischen die Fronten. Es ist der gefährlichste Teil Kolumbiens, der Teil, in dem man besonders vorsichtig sein soll.
Wir finden einen spärlich beleuchteten Truckerparkplatz, parken direkt unter einer der drei Lampen mit dem Heck zu einer hohen Mauer. Nach dem Abendessen sitzen Timm und ich auf der Dachbank, überlegen ob wir uns trauen sollen ins Departamiento Huila zu fahren, ebenfalls traditionelles Guerillaherzland, um uns die Tatacoawüste sowie die bedeutendste archäologische Fundstätte des lateinamerikanischen Kontinents, San Augustín, anzusehen. In meiner Brust schlagen zwei Herzen: Das des Abenteurers, welches nichts auf all die Warnungen geben möchte und, etwas lauter und drängender, das des Hasenfußes. Es meint, es lohne nicht, für ein paar alte Steine mit seiner Familie durch Guerillagebiet zu kutschieren. Der Himmel über uns flammt in orange, rot und gelb, auf einem Kreuz jenseits der Parkplatzmauer sitzen ein paar Geier, schwarze Umrisse vor Höllenglut.
„Ganz sicher“, versuche ich mich zu beruhigen, „ist das kein Zeichen“. Die Geier sind wegen der Kampfhähne hier, von denen ein Großteil heute Abend den letzten Sonnenuntergang erlebt, noch einmal alles rausschreien muss, was die Stimmbänder hergeben. In das schrille Kikikeriki, das Weinen der Flüchtlingskinder, denen das Wasser, welches die Mutter mit einer Colaflasche über ihre Köpfe gießt, zu kalt ist, zwischen das Röhren der Mopeds von der Straße, der Motorbremsen der LKW und das bierschwere Grölen aus der Nachbarbar, tönt ein leises „Pling“. Das aufglimmende Display meines Telefons kündigt eine Pushnachricht von der „Safe Travels“ App an:
Am 15.3.2020, 24 Uhr schließt Ecuador die Überlandgrenzen zu den Nachbarländern für alle Ausländer. Heimkommende Ecuadorianer haben noch 24 Stunden länger Zeit, zurückzukehren. Danach sind die Grenzen zu. Auf unbestimmte Zeit. Corona ist nun offiziell auch in Lateinamerika angekommen. Uns bleiben 28 Stunden.
Zumindest, wenn man es denn unbedingt positiv sehen möchte, ist nun das Streitgespräch in meinem Brustkorb vorbei. Bleiben wir lieber auf unbestimmte Zeit in Kolumbien oder wollen wir versuchen, noch über die Grenze nach Ecuador zu kommen? Die Entscheidung ist relativ schnell gefallen. Wir wissen wenig über Ecuador und darüber wie es um die Infrastruktur dieses Landes bestellt ist. In diversen Foren aber haben wir von Hans, einem Expatdeutschen gelesen, der nur zwei Stunden hinter der Grenze ein Refugium für Overlander geschaffen hat. Bei Hans, das glauben wir fest, sind wir, komme was wolle, erstmal sicher.
Grenzübergänge am Wochenende sind die Hölle, am Wochenende und dem letzten Tag vor einer mehrmonatigen Grenzschließung sicher noch schlimmer. Obwohl unser Reiseführer unbedingt davon abrät, die Straßen Nariños bei Dunkelheit zu befahren, und rät, hin und wieder im Rückspiegel nach Verfolgern zu suchen, brechen wir morgens früh um 4 Uhr auf. Zwar ist die Grenze laut Google Maps nur 4 Fahrstunden entfernt, für uns allerdings werden das mindestens 6 Stunden sein. Die Überfallquote sei auf diesem Straßenabschnitt in den letzten Jahren etwas zurückgegangen. An diese Nachricht klammere ich mich, als wir bei Nieselregen das Städtchen verlassen. Die Straßenränder sind zugeparkt mit LKW, ein Mann liegt quer auf einem Plastiktisch, um ihn verstreut die Spuren der letzten Nacht: sein Freund unter dem Tisch, eine Monatsration leerer Bierdosen und eine Lache halbverdautes Abendessen. Wir sind fast allein auf der Straße, die sich in engen Kurven durch die Dunkelheit windet. Einmal kommt uns auf unserer Fahrbahn ein Bus entgegen- er muss einem Steinschlag ausweichen. Immer wieder liegen dicke Brocken auf der Straße, auf der anderen Straßenseite blendet im Lichtkegel des Scheinwerfers dichter Nebel, der sich gnädig über den Abgrund legt. Ich kaue Fingernägel, konzentriere mich aufs Atmen. Erst als langsam die von tiefen Tälern zerfurchte Hochebene aus der Dunkelheit krabbelt, kann ich mich etwas entspannen.
Am Vormittag stehen wir zwei Stunden im Baustellenstau, sind ziemlich erschöpft, als wir gegen Mittag die Grenze erreichen. Das Immigrationsgebäude ist weiträumig mit Absperrgittern umzäunt, welche die erwarteten Menschenmassen in ordentliche Reihen sortieren sollen.

Wir scheinen die Vorhut zu sein, sind in nur wenigen Minuten bei der Zollbeamtin. Ich schiebe unsere sechs Pässe durch das kleine Loch in der Plexiglasscheibe. Sie trägt Mundschutz und Latexhandschuhe, ebenso ihr Kollege, der mit seiner behandschuhten Hand in die Tupperdose eines weiteren Kollegen greift, sich eine Handvoll Trauben unter den Mundschutz schiebt. Mit einem prüfenden Blick wandern die Augen der Beamtin über die Gesichter meiner Familie, bleiben an Max hängen, ihre Stempelhand zögert. Sie fragt mich leise etwas, das ich durch den Mundschutz nur schwer verstehen kann. Ich beuge mein Ohr an das kleine Loch, bitte sie, ihre Frage zu wiederholen. Ob ich wirklich sicher bin, nach Ecuador ausreisen zu wollen, möchte sie wissen. Ob ich mir das gut überlegt habe. Und als wir uns mit den Ausreisestempeln im Pass von ihr verabschieden, blickt sie mich eindringlich an, erinnert mich, dass ich bis 24Uhr heute Nacht die Möglichkeit habe zurückzukommen. Danach für sehr lange Zeit nicht mehr.

Auf der ecuadorianischen Seite der Grenze sind die Schlangen etwas länger. Auch hier sortieren Absperrgitter die Menschen. Wir sollen uns in der Schlange „physisch benachteiligt“ aufstellen, wegen der Kinder. Mir atmet ein altes Mütterchen in den Nacken, vor uns brüllt ein Kleinkind, von oben quält uns sengende Sonne. Max wird erst rot, dann schneeweiß und genau als wir die Gesundheitsinspektoren erreichen grün im Gesicht. Während einer der Ärzte unsere Passnummern, Namen, Alter und Reisehistorie notieren, flüstert Max „Ich muss kotzen“. Auf die Frage, ob wir in der letzten Zeit gesundheitlich eingeschränkt waren, ruft Timm ein bestimmtes „Nein, alle gesund“ über die Schulter, bevor er mit Max im Waschraum verschwindet. „Schwache Blase“ erkläre ich, während die Ärzte dem Rest unserer Familie Fieber messen und die Lunge abhorchen. Kurz bevor sie mit uns fertig sind, kommen Timm und Max zurück, letzterer mit glücklicherweise gesunderer Gesichtsfarbe. Die Ärzte stellen uns ein Unbedenklichkeitszertifikat aus, und wir können uns bei der Immigration anstellen. Dieses Mal zwar nicht in der sengenden Sonne, dafür aber in einer stickigen Halle. Wieder wechselt Max‘ Gesichtsfarbe von rosa zu eierschalweiß bis salbei, er hält sich aber tapfer auf den Beinen. Bis zu dem Moment, als die Beamtin nach kurzem Blick auf unsere Pässe sagt „Tut mir leid, aber Deutschen ist die Einreise nicht gestattet“. Deutschland zählt seit dem extremen Anstieg an Coronainfektionen zu den Hochrisikoländern und Staatsangehörigen von Hochrisikoländern sei die Einreise nach Ecuador nicht gestattet. Wir seien in den letzten 18 Monaten nicht in Deutschland gewesen, sie solle doch bitte auf die Stempel in unseren Pässen achten, versuche ich sie zu überzeugen. Sie glaube nicht, dass man da etwas machen könne, würde aber mit ihrem Vorgesetzten sprechen. Wir sollen in einer Ecke des Raumes warten, laufen immer wieder mit Max zum Waschraum, während sich besagte Ecke mit weiteren Risikotouristen aus Frankreich, Spanien, Österreich, der Schweiz und Großbritannien füllt. Nach fast einer Stunde dann, winkt uns ein noch an seinem Mittagessen kauender Beamter zu sich, teilt ohne weitere Fragen großzügig Einreisestempel aus und wünscht uns einen schönen Aufenthalt in Ecuador. Vielleicht blieben wir ja länger, zwinkert er zum Abschied.
Wieder einmal sehr spannend zu lesen, vielen Dank!
Ich hoffe, dass die Entscheidung nach Ecuador zu fahren, die richtige war. Alle Gute und bleibt gesund.
Danke, liebe Ute. Das hoffen wir auch!