Nach 11 Monaten auf Reisen

15 Juni 2019: Reisemonat 11 war der bisher abenteuerlichste, der aufregendste, der erschöpfendste und der forderndste Monat auf dieser Reise. Belize war abenteuerlich, abwechslungsreich und völlig anders, als wir erwartet haben. Guatemala, hat uns tief berührt, den Kindern eine neue Sprache beschert, uns die Navigationsinstrumente gekostet und vor Herausforderungen gestellt, die jeder Langzeitreisende irgendwann einmal zu bewältigen hat: fürchterliche Straßen, medizinische Probleme, ein Einbruch. Der Einbruch in Antigua war nervig, hat uns kurzzeitig die Laune verdorben. Am selben Abend allerdings hatten wir uns wieder gefasst. Die Scheibe war mit normalem Fensterglas geflickt, Roger auf einem bewachten Parkplatz geparkt und in Zukunft würden wir halt mit Google Maps und MapsMe navigieren. Alles machbar, nicht unbequemer, als ein Stein im Schuh. Jetzt allerdings, ist ein ganzes Bein nicht mehr funktionsfähig.

Hier in El Salvador habe ich zum ersten Mal das Gefühl, an meine Grenzen zu stoßen. Alles davor war Pille Palle, Befindlichkeiten. Bewegungsunfähig in einem der gefährlichsten Länder der Welt zu stranden ist ein Albtraum. Aus dem wir hoffentlich aufwachen werden, irgendwann, uns schütteln und froh sind, dass alles vorbei ist.

Wir campen, von Sicherheitsleuten und Kameras bewacht, vor der Notaufnahme des Krankenhauses in San Salvador. Timm hängt drinnen am Tropf und ich weiß nicht, wie wir weitermachen sollen, wie es weitergehen wird, ob wir weiterfahren können. Ich fühle mich verletzlich, ausgeliefert, habe zum ersten mal wirklich Angst. Angst die mich nicht schlafen lässt, die mich aber nicht lähmen darf, weil einer die Stellung halten muss. Zu sehen, wie der Mensch, den man am Meisten liebt, leidet und nur unter Morphium bestehen kann, tut weh. Aber auch hier, und das gibt mir die Kraft, um die Angst durchzustehen, haben die Reiseengel mit allem aufgefahren, was das Universum an Gutem zu bieten hat. Erschöpfung und Angst sind nur Begleiterscheinungen. Was mich besonders bewegt, ist dieser Tsunami an Hilfsbereitschaft, der uns überrollt. Der nur eine Frage zulässt: Wie soll ich jemals zurückgeben können, was uns hier zuteilwird? In Minutenabständen bekommen wir über Instagram Nachrichten, ich kann sie längst nicht mehr beantworten. Wir werden eingeladen, beschenkt, mit Essen und Adressen hilfsbereiter Menschen versorgt. Mitten im vermeidlich bösesten Land Lateinamerikas bauen uns Fremde eine Rettungsinsel, die zu beschreiben mir die Worte fehlen.

Die letzten Monate haben die Welt der Kinder extrem bereichert. Lotta sagte vor ein paar Tagen, dass sie das Gefühl habe, als sei Antigua auch ein bisschen ihre Stadt, ein Stückchen Zuhause. Alle Kinder stimmen darin überein. Es ist eine Entwicklung, die ich in den letzten Wochen an ihnen feststellen konnte: Ihre Welt ist größer geworden. Zuhause ist nicht mehr das Maß aller Dinge, wird immer weniger wichtig. Als wir in einem Spiegelartikel lesen, dass ungewöhnlich viele tote Grauwale an die Pazifikküste Kanadas und den USA angespült werden, sind es „unsere“ Wale, die Wale die wir in Baja California gestreichelt haben. Das Korallensterben in der Karibik betrifft „unsere“ Korallen, die, welche wir in Belize bewundert haben. Es sind „unsere“ Wälder, die in Kalifornien oder Kanada brennen oder sterben, „unsere“ Mexikaner, El Salvadorianer und Guatemalteken, die unter Gang- und Narcokriegen leiden. Es sind „unsere“ abgemagerten Strassenhunde, die auf der Suche nach Essbarem auch vor überfahrenen Artgenossen keinen Halt machen. Es ist “unser“ Atlantik, der von Braunalgen verseucht, langsam erstickt, “unsere“ Fische, die darunter leiden.  Es sind “unsere“ Strände, die im Plastikmüll versinken, “unsere“ Nachbarn die als Homeless durch die Straßen Berkleys, San Franciscos, Portlands geistern.

Unsere Nachbarschaft, unser Vorgarten ist groß geworden, umfasst nicht mehr nur die heimatliche Umgebung. Das hat nichts mit Besitzdenken zu tun, sondern mit Verantwortlichkeit. Uns berührt das, was wir sehen, was sich vor unseren Augen abspielt. Es ist leicht, Nachrichten abzuschalten, zu denken, das betrifft mich nicht. Beim Reisen allerdings wird man unfreiwillig Zeuge all dieser Nachrichten, die man Zuhause so bequem wegzappen kann. Für die Kinder ist das oft hart. Sich verantwortlich zu fühlen für etwas, an dem man scheinbar nichts ändern kann, entzieht besonders Lotta manchmal den Boden unter den Füssen. Sie macht sich große Sorgen um unsere Welt, darum wie es mit unserem Planeten weitergehen soll, wie wir all die Probleme lösen können. Es gibt Momente, da fühlt sie sich nicht mehr sicher, nicht mehr beschützt, da werfen sich Schatten über ihren jugendlichen Optimismus. Dann fließen Tränen. Und dann möchten Timm und ich die Kinder in den Armen wiegen und sagen “bis Du heiratest, ist alles wieder gut“. Die Befürchtung, dass bis dahin mit Nichten alles gut sein wird, dass es sogar schlimmer sein wird, zertrümmert wiederum uns den Boden unter den Füssen.

In jedem Land, das wir in den vergangenen 11 Monaten bereist haben, wurde uns gesagt, das Wetter sei ungewöhnlich für die jeweilige Jahreszeit. Viel zu warm, zu kalt, zu viel oder zu wenig Regen, zu früher oder zu später Jahreszeitenwechsel, zu warmes Meer, zu kalte Luft, mehr Moskitos, weniger Schmetterlinge… die Liste ist unendlich fortzusetzen.

Wir wissen das alles. Es allerdings mit eigenen Augen zu sehen, die Berge von Müll, welche in Zentralamerika in der Natur brennen, schwimmen und stinken, mit der eigenen Nase zu riechen, verdeutlichen, dass wir in Deutschland noch so sehr recyceln oder plastikfrei leben können, es ändert nichts an der Weltlage.

Und doch verschafft die Reise den Kindern eine wichtige Erkenntnis: Veränderung beginnt bei Ihnen selbst. Das eigene Verhalten hat unmittelbare Auswirkungen auf das Umfeld. Ein einziges Lächeln macht aus Fremden Freunde.  Ein bisschen Futter macht einen Straßenhund satt, zumindest für ein paar Stunden.  Eine Stunde Müll sammeln, und der Strand ist wieder golden- nur ein kleines Stück, und sicher nicht für lange, aber für diesen Moment. Und viele kleine Momente, machen einen großen Moment.

Wir können deutliche Veränderungen an den Kindern feststellen. Als wir z.B. in Guatemala zum Mittag Hähnchen essen, sagte Max: „Mama guck mal der Mann. Ich glaube, der hat auch Hunger“, zeigte auf einen alten Mann, der am Eingang des Restaurants saß und freundlich lächelte. Die Kinder bestanden darauf, ihr Essen zu teilen, bereiteten dem Mann einen Teller, den dieser freudig entgegennahm. Solche Situation gab es in den letzten Monaten viele. Der Blick der Kinder auf ihre Umwelt ist ein anderer geworden. Sie sind empathischer, respektvoller, hilfsbereiter und offener geworden. Immer, wenn mich die Angst einholt, dass die Kinder schulisch etwas verpassen könnten, dann sind dies genau die Situationen, die ich mir vor Augen führe.

Wir wissen nicht, welche Anforderungen die Jobs der Zukunft an unsere Kinder stellen werden. Sicher wird es aber nicht die Fähigkeit sein, den klassischen deutschen Literaturkanon herunterbeten zu können oder sämtliche Daten der Weimarer Republik aus dem FF zu wissen. Worauf es in Zukunft ankommen wird, ist Grenzen abbauen zu können, den Bedürfnissen seiner Umwelt gegenüber weniger blind zu sein. Sich nicht als das Zentrum des Universums zu sehen, kommunizieren zu können, kreativ Konflikte zu lösen, in bisher unbekannte Richtungen zu denken. Um seine Umwelt zu verstehen, muss man sich erst einmal selber verstehen und wissen, wer man ist. Lernen, sich selbst und seinem Urteil zu vertrauen, mit offenen Augen durch die Welt gehen, sich von eigenen Erfahrungen leiten lassen, statt von den Informationen, mit denen man von allen Seiten gefüttert wird, wird enorm wichtig sein. Wer Freunde in der ganzen Welt hat, kann nicht AfD wählen. Wer mit eigenen Augen sieht, wie wir unsere Umwelt und Mitmenschen ausbeuten, kann nicht gedankenlos im eigenen Komfort verweilen. Wer sehen darf, wie grandios und vielfältig unser Planet ist, kann nicht anders, als ihn schützen zu wollen. Wer sich immer wieder in neuen Kulturen und Gesellschaftsformen, mit neuen Sprachen und Regeln zurechtfinden muss, der wird keine Probleme haben, in neuen Situationen frisch zu denken- auch ohne lateinische Deklinationen geübt zu haben, ohne das Periodensystem aufzeichnen zu können.

El Salvador Nach 1,2,3..Monaten

3 Comments Hinterlasse einen Kommentar

  1. neue Einsichten neue Sichtweisen, nicht nur Einbahnstraßen, neue Erfahrungen, das hilft immens,
    zu Hause, zufriedener,verantwortungsbewusster zu agieren, ohne in ein übliche Lamento einzustimmen. Dies erleichtert seine Weltanschauung zu korrigieren, zu hinterfragen, zu ordnen.
    Euer faszinierender und nachdenklicher Bericht trägt dazu bei. Alles gute weiterhin. und Gesundung für Tim.

  2. Nun, ich mag deine Art zu schreiben, habe es genauso erlebt, gehasst und geliebt – Mitte- und Südamerika sind eine Herausforderung, ein Traum und eine ganz andere Welt; Hilfsbereitschaft, Gastfreundlichkeit und Offenheit grenzen an Hilflosigkeit, kriminelle Energie und Angst. Auf meiner Weltreise 2014-2016 mit meinem 4WD habe ich ähnliche Situationen durchlebt. Kopf hoch, weiterfahren, die Gesundung kommt bestimmt, Timm ist stark, die Familie Gold wert! Ich lese mit, denke an Euch, erinnere mich, freue mich auf meine Weiterfahrt – das Fernweh hört niemals auf! Fühlt Euch gedrückt und liebe Grüße, Holger

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