Teotihuacán
Wir werden oft gefragt, wie wir sicherstellen wollen, dass die Kinder alles lernen, was sie brauchen, um irgendwann wieder im deutschen Schulsystem zu bestehen. Wir wissen nicht, ob wir es schaffen werden, stofflich alles abzudecken, was die Klassenkameraden in derselben Zeit behandeln. Sicher allerdings bin ich, dass sie kein bisschen dümmer sein werden, da auch ihre Klassenkameraden das meiste irgendwann wieder vergessen haben werden. Einstein soll gesagt haben, dass Lernen aus Erfahrung entspringt. Alles andere sei nur als Information zu werten. Durch Erfahrung, durch sehen, fühlen, riechen zu lernen ist nachhaltig, bleibt im Kopf, weil es durch alle Sinne „erfahren“ wurde. Einsteins Urteil, denken wir, kann man vertrauen und so lassen wir am Tag unseres Besuchs in Teotihuacán die Schule sausen.

Allein für die richtige Aussprache des Namens ( https://de.howtopronounce.com/spanish/teotihuac%C3%A1n/ ) bekommt jedes Kind einen dicken Smiley im mentalen Klassenbuch. Den Namen, der so viel bedeutet wie „ Platz der Götter“ verdankt Teotihuacán den Azteken, die, als sie auf die seit dem vorchristlichen sechsten Jahrhundert bewohnte und dann aus unbekannten Gründen verlassenen Ruinenstadt trafen, fest davon überzeugt waren, hier den Platz gefunden zu haben, an dem sich die Götter trafen, um über die Erschaffung des Menschen zu beraten. Noch heute sind viele von den übernatürlichen Kräften dieses Ortes überzeugt, was sich jedes Jahr zur Sommersonnenwende im März zeigt, wenn Tausende Esoteriker hierher pilgern um die Magie des heiligen Ortes in sich aufzusaugen.
Über das Volk der ursprünglichen Erbauer Teotihucans ist heute wenig bekannt, man geht aber davon aus, dass die Stadt in ihrer Hochzeit ein Gebiet von 20 Quadratkilometern umfasst hat und circa 250.000 Menschen hier wohnten. Damit war Teotihuacán die größte Stadt ihrer Zeit auf dem amerikanischen Kontinent. Archäologische Funde lassen vermuten, dass sich das Reich dieser alten Hochkultur von den heutigen südlichen Bundesstaaten der USA bis ins heutige Honduras erstreckte. Keine der folgenden Kulturen wurde je wieder so mächtig.
Das größte und wahrscheinlich älteste Bauwerk ist die Sonnenpyramide, die drittgrößte Pyramide der Welt. Etwa 100 nach Christus in einem Arbeitsgang errichtet. Welchem Gott sie ursprünglich geweiht war, ist nicht mehr eindeutig zu belegen. Die Azteken jedoch widmeten sie dem Sonnengott. Ursprünglich soll auf dem 4. Plateau der Pyramide ein Tempelgebäude gestanden haben, der archäologische Entdecker der Ruinen Leopoldo Batres allerdings war stattdessen von einer 5. Stufe ausgegangen und hatte diese zu Beginn des 19. Jahrhunderts „rekonstruiert“, sodass die Sonnenpyramide heute 5 Stufen hat.
Wie einst die Priester steigen wir die steilen Stufen der Pyramide hinauf, setzen uns an den Rand und blicken über das weitläufige Ruinengelände. Es ist heiß, um uns posieren Touristen für Erinnerungsfotos. Was diese Steine erzählen könnten, hätten sie eine für uns hörbare Stimme. 2500 Jahre Menschengeschichte sind an ihnen vorübergezogen, mehrmals wurden sie verlassen, vom Dschungel zurückerobert, um dann erneut freigelegt zu werden. Sehr wahrscheinlich werden sie auch die nächsten 2500 Jahre überstehen, bis in eine Zeit überdauern, in der es vielleicht keine Menschen mehr geben wird. Auch wenn sich uns die heiligen Schwingungen des Ortes nicht offenbaren, es für uns hauptsächlich ein Touristenspektakel ist, bewegt uns der Gedanke, dass eine Kultur vor 2500 Jahren imstande war, solche Bauwerke zu errichten. Zeit bekommt eine völlig andere Dimension, der Fortschritt eine neue Bedeutung und das Ausmaß der Zerstörung unserer modernen Welt eine neue Bedrohung. Hier lebte einst eine hoch entwickelte Kultur, hier war einst das Zentrum Mesoamerikas . Irgendetwas hat all das zerstört. Wird eines Tages jemand auf dem Bogen des Brandenburger Tors sitzen und sich wundern, was unsere Hochkultur in den Niedergang gezwungen hat? Wir blicken die „Straße der Toten“ entlang, die Hauptachse der einstigen Stadt. Vor uns thront die Mondpyramide, die etwas kleiner, aber kein bisschen weniger eindrucksvoll erscheint. Anders als die Sonnenpyramide ist sie rund 100 Jahre nach dieser in mehreren Bauphasen entstanden. Funde unter der Pyramide lassen vermuten, dass hier die Opfer ritueller Tötungen ihre letzte Stätte fanden, welchem Gott sie allerdings geweiht war, ist auch hier nicht klar zu sagen. Aus überlieferten Berichten der Azteken geht hervor, dass auf ihrer Spitze einst eine große Statue gestanden haben soll, da aber die spanischen Eroberer alle greifbaren Schriften und Überlieferungen zerstören liessen, kann man diese Überlieferungen nicht mehr nachprüfen. Auch diese heiligen Stufen steigen wir hinauf, vorbei am Spalier der Händler, die Pfeifen, Statuen, Schmuck und Textilien verkaufen. Mir ist schwindelig. Nicht allein die Sonne, sondern wahrscheinlich auch die Höhe und die hohen UV Werte machen mir zu schaffen. In der Ferne wabert die Luft bräunlichgelb- Mexiko Stadt ist nur 50 km entfernt.
Die Nacht verbringen wir in Fortín de las Flores, umschwirrt von tausenden Glühwürmchen. Es ist unglaublich feucht und heiß und durch die offenen Fenster weht kein Lüftchen. Dafür umso mehr Hundegebell. Bis zum Morgen wird unser Campingplatz von zwei konkurrierenden Staßenhundebanden umkämpft, und mir fällt auf, dass wir seit wir uns auf Mexikos Festland befinden, nicht eine einzige ruhige Nacht hatten. Wir gönnen uns einen zweiten Tag Pause. Trotz Schnupfen und Fieber spielt Max den ganzen Nachmittag mit zwei Jungs aus dem Dorf Fußball. Es ist Sonntag, jeder dümpelt vor sich hin, ich wasche stundenlang Wäsche. Zum Abendessen bitten uns die Kinder, ob wir unser etwas in Vergessenheit geratenes Tischgebet wiederbeleben können. Paula bedankt sich dafür, dass Papa uns so sicher durch Mexiko fährt, dass wir so viele sehen dürfen und dafür, dass wir alle zusammen sind.
Schon am nächsten Morgen kann ich für diese Tatsache keine Dankbarkeit mehr aufbringen. Lotta und ich geraten schrecklich aneinander, brüllen uns an, ich stürme heulend aus dem Truck. Ich kann nicht mehr, habe die Nase voll von Hitze, von Enge, davon die Kinder zu unterrichten und nicht die kleinste Möglichkeit zu haben, mich dem zu entziehen. Ich phantasiere von Rückflugtickets, Internaten, Scheidung, bin der festen Überzeugung, dass ich hier und jetzt Schluss mache mit allem. Sollen sie doch ohne mich weitermachen! Als ich eine Stunde später vom Heulen verquollen in den Truck steige, um meinen festen Entschluss zu verkünden, sitzen dort bereits vier Kinder, blicken mir mit ernsten Augen ins Gesicht. Familienrichter Paula spricht das Urteil „So können wir uns nicht anschreien. Ich habe mir etwas ausgedacht: In Zukunft gibt es eine Gelbe Karte. Wenn die gezogen wird, dann müssen sofort alle den Mund halten. Wer das nicht tut, bekommt die rote Karte und muss vor die Tür.“ Zustimmendes Nicken von allen Seiten, ein zaghaftes Lächeln aus Lottas ebenfalls verheultem Gesicht. Ein leichtes Zucken um Timm’s rechten Mundwinkel. Flugticket-, Scheidungs- und Internatsphantasien verteilen sich wie Löwenzahnschirmchen in alle Richtungen, gepustet von einer starken Bö die jeden Ärger verwirbelt. Vielleicht bleibe ich doch noch ein bisschen dabei.