Baja California, Ojo de Liebre
Wenn wir Amerikanern erzählen, dass wir nach Mexico weiterreisen wollen, verstummt das Gespräch meist für kurze Zeit. Entweder hält man uns für mutig, verrückt oder legt uns ans Herz bloß vorsichtig zu sein. Selbst in Kalifornien, das ja nur einen Katzensprung von Mexiko entfernt ist, ist das der Fall. Woher kommt diese Angst vor dem bösen Nachbarn? In Reiseforen und von andernen Reisenden, die dort gewesen sind, hören wir fast ausnahmslos Gutes. Man solle sich vor der korrupten Polizei in Acht nehmen und natürlich gäbe es No-Go Areas, besonders jene in denen sich die verschiedenen Drogenkartelle bekämpfen. Ansonsten soll Mexico wunderbar sein. Schon viele Kilometer vor der mexikanischen Grenze weisen Warnschilder darauf hin, dass Waffen in Mexiko illegal sind, sofort verabschiedet sich eine Anspannung von mir, die ich die letzten 4 Monate mit mir herumgetragen habe.

In unserem letzten Tagen in San Diego bin ich ein wenig aufgeregt, schlafe schlecht, träume viel. Wir finden einen Aldi Markt, kaufen dort ein, als planen wir eine Expedition ans andere Ende der Welt. Ich speichere die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ab, ärgere mich, dass sie mich doch mehr beeinflussen, als ich will.
Sehr früh am nächsten Morgen stehen wir auf, wollen früh an der Grenze sein. Der Grenzübergang Tijuana soll der Geschäftigste der Welt sein, sagt jedenfalls Lonely Planet, die Stadt selbst führt die Liste der weltweit gefährlichsten Städte an. Als wir dort ankommen, ist es erstaunlich ruhig, sehr geordnet, ganz anders als das chaotsche Gewusel, das wir aus Afrika kennen. Aufgrund von Rogers Größe müssen wir uns in der Busspur einordnen. Anders als für das Festland Mexikos braucht man für Baja California, kurz Baja keine „temporäre Einfuhrgenehmigung“ für das Auto. Da wir aber planen vom Süden der Baja mit der Fähre auf das Festland überzusetzen, möchten wir unsere Einfuhrgenehmigung schon hier besorgen. In der Busspur weiß niemand so richtig, was wir brauchen, wer zuständig ist, wir werden hin und her geschickt. Nach 1,5 Stunden haben wir unsere Visas und eine 10 Jahre gültige Einfuhrgenehmigung und nachdem Roger noch einmal geröntgt wird, sitzen wir wieder alle im Auto, voller Vorfreude auf ein neues Land, eine neue Kultur.
Sofort ist alles anders. Grau ist die vorherrschende Farbe, überall liegt Müll. Die uns in den letzten Monaten so vertraut gewordenen Billboards und Neonreklamen weichen den an die Wände gemalten Schildern. Tijuana ist eine schnell wachsende Grenzstadt, die in den letzten Jahren vor allem durch Morde innerhalb der Drogenkartelle Schlagzeilen gemacht hat. Das schreckt viele Touristen ab. Auch das Auswärtige Amt rät von Aufenthalten in Tijuana (wie eigentlich generell von Reisen in Mexiko) dringend ab. Unser Plan ist, den ersten Tag möglichst weit vom „kritischen Grenzstreifen“ weg zu kommen, zügig Richtung Süden zu fahren. Während wir Tijuana schnell hinter uns lassen, sehen wir, dass hier fleißig am Grenzstreifen gebaut wird. Den mexikanischen und den amerikanischen Zaun trennen ein ca. 400m breiter gerodeter Streifen, der Zaun auf der mexikanischen Seite macht einen deutlich solideren Eindruck und ich frage mich, wer hier wen fernhalten will.

Baja California ist die zweitgrößte Halbinsel der Welt, durchschnittlich 120 km breit und mehr als 1200km lang. Die „Carreterra Transpeninsular“ führt einmal von Nord nach Süd, wird in den nächsten Tagen unseren Weg bestimmen.
Seit Wochen beobachtet Lotta das Wetter der Baja. Sonne, Wüste, Meer- ihre Sehnsuchtskombi. Um so enttäuschter ist sie, als uns Regen, Matsch und kalte 12 Grad empfangen. Es stürmt, erinnert an Oregon im November. Die Pazifikküste des Nordens soll von amerikanischen Touristen, Hotels und Fastfoodrestaurants überlaufen sein. Wir stellen uns auf das schlimmste ein, und sind überrascht. Entlang der Straße tobt das Leben. Aus Holz zusammengezimmerte Verkaufsstände, mit Plastikfolie oder Wellblech abgedeckt, verkaufen alles von Secondhandklamotten, Waschmaschinen, Matratzen und Autoteilen. Einen befestigten Seitenstreifen gibt es nicht, stattdessen im Sommer Staub und jetzt Matsch. Die Straßen, die von der Hauptstraße abzweigen sind nicht geteert, haben tiefe Schlaglöcher, die jetzt mit schlammigem Wasser gefüllt sind. Die Kinder sind begeistert: Endlich, endlich wird es wild!
Schon wenige Kilometer, nachdem wir Tijuana verlassen haben, löst sich meine Anspannung. Von allen Seiten werden wir angelächelt, die Leute winken, als wir zwischen einen Militärkonvoi geraten, nicken uns die Soldaten grinsend von der Ladefläche zu. Ich fühle mich absolut nicht unsicher, im Gegenteil. Vieles kommt mir vertraut vor, erinnert an Afrika. Wir halten an, kaufen am Straßenrand geschnittenes Obst, das man hier zu Lottas Entsetzen mit Chilisoße würzt. Dazu gibt es Kokoswasser aus noch grünen Kokosnüssen, deren Fleisch die glibberige Konsistenz von Calamaris hat, kleingeschnitten mit Limone und Salz köstlich schmeckt. Um Magendarmproblemen vorzubeugen, kochen wir normalerweise selber. In Mexico allerdings, werden wir von dieser Regel oft eine Ausnahme machen um nicht einen einzigen Fischtaco, Burrito und die dem Schmalzgebäck ähnlichen Churros zu verpassen.
Wir kommen nur langsam voran. Die Straße, die Hauptverkehrsader der Halbinsel ist sehr schmal, in jede Richtung einspurig und verläuft auf einer Art Damm, der zu beiden Seiten manchmal sehr steil abfällt, Schläglöcher, Kühe und Überschwemmungen tauchen aus dem Nichts auf. Man darf höchstens 60km/h fahren, außer uns hält sichkaum jemand daran. Wir werden oft überholt, manchmal wird der Überholer während des Überholens ebenfalls überholt. Zu beiden Seiten der Straße reihen sich Kreuze. Die Stellen die an die verunglückten Fahrer erinnern, sind oft mit Teilen der Auto- oder LKW-Wracks verziert. Jede Ortschaft, selbst die abgelegenste, hat einen ausufernden Schrottplatz mit tausenden von verbeulten Wracks.
In den ersten zwei Tagen fahren wir hauptsächlich, versuchen dem Regen zu entkommen, der die ganze Nacht auf unser Dach prasselt. Die Ortschaften werden spärlicher, Tankstellen sind nun am Straßenrand geparkte Pickuptrucks mit Reservekanistern auf der Ladefläche, die Kakteen werden immer größer, immer imposanter. Wildblumenteppiche in Gelb, Weiß und Orange wechseln mit sattem Frühlingsgrün, Geröllwüste und Abschnitten, die aussehen wie liebevoll angelegte Sukkulentengärten.
Nach 500km sind wir endlich im südlichen Teil der Baja angekommen, an der Laguna „Ojo de Liebre“. Hierher, sowie in die Laguna San Ignacio, kommen jedes Jahr zwischen Dezember und April die Grauwale aus Sibirien und Alaska, um sich zu paaren und ihre Jungen zur Welt zu bringen. 3 Monate dauert die Reise, es ist die längste bekannte Säugetierwanderung der Welt. Im April machen sie sich auf den Rückweg, um sich den Sommer über wieder im Norden aufzuhalten und eine dicke Fettschicht anzufressen. Während der gesamten Reise- und Aufzuchtzeit fressen die erwachsenen Wale nicht. 9 Monate ohne Futter sind für sie, besonders die Mütter, deren Milch einen Fettgehalt von 50% hat, extrem anstrengend. Dieses Jahr, so sagen uns die Guides, sind die Wale schon recht mager angekommen und es sind deutlich weniger als in den vergangenen Jahren. Die Gründe dafür kennen sie nicht, vielleicht liegt es daran, dass der letzte Sommer so warm war und dies Einfluss auf das Nahrungsangebot der Wale im Norden hatte. Ein erwachsener Grauwal wird 11-16 Meter groß, wiegt bis zu 30 Tonnen. Die Kleinen haben ein Geburtsgewicht von 700kg, sind um die 7m lang.
Wir campen direkt an der Lagune, sind am nächsten Morgen um 8.00 abfahrbereit. Schule, beschließen wir, findet heute auf dem Wasser statt, hat nur ein Thema: Grauwale. Wir haben großes Glück. Mit uns fährt Maria, die hier viele Jahre die Guides begleitet hat, heute mit ihrer kleinen Tochter Ela in Panama lebt, dort als Reiseleiterin arbeitet. Sie spricht fließend Spanisch und Deutsch, kann uns alle Fragen übersetzen. In einem kleinen Motorboot fahren wir raus in die Lagune, der Wind hat sich über Nacht gelegt und das Wasser ist relativ ruhig. Schon nach wenigen Minuten sehen wir in der Ferne die Fontänen der Wale, halten genau darauf zu. Dann stellt unser Guide den Motor ab, das Boot schaukelt friedlich. Keine 5 Meter vor uns taucht der Kopf einer Grauwalmutter auf, neben ihr das Kalb. Wir halten den Atem an. Ein heller Schatten unter dem Boot- keinen Meter unter uns taucht die Mutter unter uns hindurch. Ich halte den Atem an, die Kinder sind aus dem Häuschen. Plötzlich wird es wackelig, direkt neben Carl, ein paar Zentimeter von der Bordwand taucht die gefleckte Nasenspitze des Kleinen auf. „Fass sie an, schnell!“ ruft der Guide auf Spanisch. Ich traue meinen Ohren nicht. „Ihr müsst sie streicheln, sonst schwimmen sie wieder weg“, erklärt mir Maria. Grauwale sind die einzige Walspezies außer Delphinen, die in freier Wildbahn den Kontakt zu Menschen suchen. Immer wieder tauchen sie unter unserem Boot durch, tauchen an unseren streichelnden Händen entlang, strecken die Nasenspitzen aus dem Wasser, stupsen gegen das Boot. Für sie ein Spiel, für uns ähnelt es einer Kollision. Zeitweise ist unser kleines 10 Mann Boot von zwei Männchen, zwei Müttern und zwei Kälbern umgeben, immer wieder tauchen sie unter uns hindurch, tauchen senkrecht nach oben um uns genauer in Augenschein zu nehmen, schwimmen mit uns, als wir den Motor anmachen, um ein bisschen Abstand zwischen uns und die Sandbank zu bringen, die für die Wale unangenehm werden könnte. Aus ihren Blaslöchern sprüht uns die Gischt in Gesicht. Auch Wale haben Mundgeruch, stellen die Kinder fest. Wenn den ihnen ein Boot gefällt, dann bleiben die Wale zum Spielen erklärt uns Maria. „Und wenn Kinder an Bord sind“, sagt der Guide, „ist es jedes Mal besonders“. Die Wale scheinen deren Anwesenheit zu spüren, sie zu genießen. Ganze zwei Stunden verbringen wir bei den grauen Riesen und als wir uns wieder in Bewegung setzen, schwimmen sie uns noch eine ganze Weile nach. Dass man hier Wale sieht, das garantieren die Guides. Dass sie aber so zahlreich und so lange bei einem Boot bleiben, ist ein großes Glück. Eines, von dem wir noch sehr sehr lange zehren werden