Las Vegas
Das deutsche Jugendschutzgesetz steckt voller Gründe, die dagegen sprechen, mit Kindern nach Las Vegas zu fahren. Wenn wir unsere Reise als Bildungsreise verstehen, und wollen, dass die Kinder ein umfassendes Bild der amerikanischen Gesellschaft bekommen, dann wollen wir ihnen (und uns) „Sin City“, die Stadt der Sünden, nicht vorenthalten. Glücksspiel, Prostitution, Oceans 11, Siegfried und Roy, Luxushotels- die Assoziationen, die Las Vegas hervorruft, lassen sich ins Endlose fortführen. Wir können es kaum erwarten, sie mit eigenen Bildern zu füllen.
Nach fast zwei Wochen unter den Sternen des Wüstenhimmels, sind die Lichter der Stadt ein Schock. Der Himmel ist hier niemals schwarz, so etwas Banales wie Sterne haben keine Chance zu leuchten. Als wir lange nach Sonnenuntergang zum ersten Mal über den taghell erleuchteten „Strip“, die Hauptstraße Las Vegas‘ fahren, trage ich Sonnenbrille. Der Werbelaster neben uns blendet, lässt vor unseren Augen schwarze Punkte tanzen und ich fürchte um mein Augenlicht. Für das, was sich zwischen dem grellen Blinken durch meine Netzhaut fräst, kenne ich nur einen Begriff: Absurd! Die Kinder sind völlig aus dem Häuschen, ergänzen das Spektakel vor unseren Augen akustisch. Nach ein paar Minuten ist Paula sich sicher „Ich liebe Las Vegas!“, eine Meinung, die sie bis heute vertritt.

Wir fahren vorbei an der Sphinx in Lebensgröße, am Luxor Hotel, das in Pyramidenform gebaut, den Anfang des Strips markiert. Das „Excalibur“ ein riesen Schloss, sieht aus wie der Lego Friends Welt entsprungen. Über die Dächer „New Yorks“ rattert eine Achterbahn, vorbei an der Freiheitsstatue im Basketballtrikot. Ein paar Meter später sind wir schon in Paris, zu unserer Rechten der Eiffelturm. Im „Bellagio“ gegenüber türmen sich aus einem dem Comer See nachempfundenen Gewässer beleuchtete Wassermassen in den Himmel, im „Venetian“ schippern Gondolieri durch künstliche Kanäle. Das Imitat des Markusplatzes unterscheidet sich nur dadurch, dass es nicht von Taubenschwärmen bevölkert ist. Im Dschungel des „Mirage“ bricht stündlich ein künstlicher Vulkan aus, sprüht Funken und Flammen, die Antike blüht im fast schmerzhaft kitschigen „Ceasar Palace“ auf. Der RV Park auf dem wir einen Stellplatz reserviert haben, befindet sich im „historischen“ Teil Las Vegas‘ (Downtown), gehört zum „Main Station Hotel“ und Casino, einem der ältesten der Stadt. Wir beschließen, Roger zu parken und, obwohl es schon 20.30 ist, später mit dem Uber zum Strip zurückzufahren.
Wir starten am aus dem „Oceans Eleven“ bekannten Hotel „Bellagio“. Als wir zwischen den Stretchlimousinen wenig glamourös unserem Uber entsteigen, kommen wir gerade rechtzeitig zur halbstündlich stattfindenden Wassershow. Zu Andrea Boccelis „Time to Say good bye“ tanzen computergesteuert beleuchtete Wasserfontänen 140m hoch in den Himmel und rauschen donnernd wieder herab.
Wir sind sprachlos, ein Zustand, in dem wir uns die nächsten Stunden befinden werden. Etwas unsicher stehen wir wenig später am Eingang des Hotels, als uns ein Page schwungvoll die Tür öffnet, „Welcome, enjoy your evening!“ Wir tragen Rucksack, Blundstones, Jeans und haben 4 minderjährige Kinder dabei, erfüllen nicht annähernd den Dresscode für ein Fünfsterne Hotel, geschweige denn die Voraussetzungen für einen Casinobesuch. In Australien bin ich einmal von einem Casinosicherheitsbeamten vor die Tür begleitet worden, weil meine Jeans ein Loch hatte, bin entsprechend unschlüssig. Hier in Vegas ist das kein Problem. Jeder hat Zugang zu jedem Casino. Kinder inclusive. So lange sie nicht an den Maschinen oder Tischen stehen bleiben, sondern nur gucken und weitergehen, sei das kein Problem, so eine freundliche Angestellte in kurzem Rock mit auffällig hübschen Beinen. Bei Babies allerdings macht man eine Ausnahme. Die dürfen den ganzen Abend im Zigarettenrauch und Whiskeydunst am Spiel ihrer Eltern teilhaben, sowohl im Kinderwagen, als im Tragetuch wie ich feststellen muss. Wunderschöne Frauen in bodenlangen Abendroben stöckeln elegant am Arm ihrer befrackten George Clooneys, Asiaten tippeln knipsend von Tisch zu Tisch, lärmende Gruppen mit „Vegas 2019“ T-Shirts drängeln sich um die Roulette Tische, der eine oder andere schwankt bedenklich. Zu jedem Hotel in Vegas gehört ein Casino, mindestens 2-3 Sterne Restaurants, Wedding Chapels (Hochzeitskapellen) und ein hauseigenes Theater mit Show, im Bellagio performt der Cirque de Soleil, auch in der erotischen Ü18 Version.
Obwohl Las Vegas seit Jahren versucht, sich vom Schmuddelimage zu befreien und familienfreundlich zu werden, ist käuflicher Sex allgegenwärtig. Leuchtreklamen preisen zügellose Damen an, die man sich auf Wunsch mit der Limousine liefern lassen kann. Eine Bar wirbt mit Jungfrauen, „jetzt noch jünger“, eine andere damit, sich doch mal die „Eier brechen zu lassen“. Ein Bilboard bewirbt „Little Darlings“, komplett nackt, jetzt aus dem Jahrgang mit Schulabschluss 2018. Frauen im Stringtanga, mit Netztstrümpfen, Federpuscheln am Po und bommelbedeckten Brüsten posieren für Erinnerungsfotos. „Ist denen nicht kalt“, möchte Max wissen, zuppelt an seiner Daunenjacke. „Doch sicher, aber das ist deren Job“ lautet meine etwas lahme Antwort. „Blöder Job, und überhaupt warum will man solche Fotos?“ Wir erklären den Jungs das Konzept von Nacktbars und Prostitution. Beide sind entsetzt, dass manche so mit Frauen umgehen, Paula wird wütend, weil ihrer Meinung nach Frauen die sich so behandeln lassen, dem gesamten weiblichen Geschlecht schaden. Überhaupt beschäftigt sie das Thema Gleichgberechtigung im Moment sehr. In einem Englischaufsatz über ihre Lieblingsschauspielerin Emma Watson hat sie vor allem deren feministisches Engagement in den Vordergrund gestellt.
Während wir über den Strip bummeln, zwinkern Pleasuregirls in engen Leggings Timm zu, mir haucht ein besoffener alter Sack mit Vodka to Go Becher in Wasserpfeifenform ein „Hi“ in den Nacken. Betrunken, und damit willenlos zu sein, scheint in Las Vegas der erwünschte Zustand. Überall, zumindest an dem Ende des Strips, der statt Gucci und Prada Shirts mit der Aufschrift „What happened in Vegas, stays in Vegas“ verkauft, sind Barstände aufgebaut, die Hochprozentiges in Slusheisform mit lustigen Bechern verkaufen. Es wirkt. Die Kinder lachen über zwei mittelalte Freundinnen, die im Zickzack über den Bürgersteig schwanken, sich krampfhaft aneinanderklammern. Sekunden später liegen sie am Boden, reißen sich gegenseitig an den Haaren, beschimpfen sich (zum Glück auf Englisch) aufs Übelste. Die Jungs lachen Tränen, die Mädchen sind geschockt und peinlich berührt. Passanten drehen Videos, feuern die Damen an. Erst als sie von Sicherheitskräften getrennt werden, scheinen sie sich zu beruhigen und schunkeln Arm in Arm davon.
Dem dritten Übel dem Vegas seinen legendären Ruf verdankt, kann man gar nicht aus dem Weg gehen. Betritt man unschuldig einen Starbucks oder eine Apotheke, landet man unweigerlich plötzlich vor einem Spielautomaten. Sogar an der Supermarktkasse kann man sich die Wartezeit mit Daddeln verkürzen. Viele der Casinos haben 24/7 geöffnet, manche haben nicht einmal Türen, sondern sind die über die gesamte Gehwegfront dauergeöffnet. Dort sitzen noch am Abend die Leute die den Tag, im Pyjama und Hausschuhen, mit einer kleinen Aufwärmrunde begonnen haben. Prunk und Trash sind in Las Vegas keine Gegensätze, gehören absolut gleichwertig zum Bühnenbild dieses verrückten Zirkus.
Bis nach Mitternacht ziehen wir an unserem ersten Abend durch die vielen Hotelcasinos, Malls und schauen uns die verschiedenenen Miniwelten an, die jedes Hotel erschafft. Als wir mit dem Uber zurück zum Trailerpark fahren, schläft Max auf der Rückbank ein. Unser Fahrer kommt aus Jordanien, ist seit 1,5 Jahren in Las Vegas. Um seine in Amerika studierenden Kinder zu unterstützen, arbeitet meist 16 Stunden am Tag, beginnt zwischen 15 und 16 Uhr, fährt die Nacht durch bis 8 Uhr morgens. Wenn er müde wird, bringt ihm ein Freund Kaffee von Starbucks, manchmal schläft er eine Stunde. Wenn er seinen Kindern die nötige Starthilfe verschafft hat, möchte er zurück nach Jordanien, wo seine Frau auf ihn wartet.
Erschlagen von der Nacht und den Eindrücken, werden wir am nächsten Morgen erst nach 11 Uhr wach. Es regnet es in Strömen, alles ist grau. Dort wo es gestern verheißungsvoll und einladend geblinkt und geblitzt hat, dominiert Tristesse. Die Lichter sind aus, Hangover. Ich habe Kopfschmerzen, die Wimperntusche zeichnet mir Ränder unter die Augen, auf der Zunge ein Geschmack nach Aas. Ich bin gestern todmüde ins Bett gefallen, habe weder Zähne geputzt, noch mein Gesicht gewaschen. „Genauso fühlt sich Aufwachen in Vegas an“, denke ich. Meine Schlafanzughose hat Leopardenmuster. Zu Hause lustige Ironie, wirkt sie hier plötzlich seltsam tragisch. Ich kann sie kaum ertragen, fühle mich trashig, habe das dringende Bedürfnis zu putzen, zu waschen, eine ordentliche Hausfrau zu sein. Ich koche Lasagne, zünde Kerzen an. Die Schule mache ich an diesem Tag besonders gewissenhaft. Ich möchte dringend heile Welt um mich. Um unsere Wäsche zu waschen, muss ich ins Casino des Main Road Station Hotels um an der Casinokasse Münzen einzutauschen. Es ist 12 Uhr am Morgen, der Dunst von Rauch und Bier schlägt mir entgegen. Vor den blinkenden Maschinen sitzen Leute, stieren in die sich drehenden Fensterchen. Ein dicker Mann schlurft am Gehwagen vorbei, eine blaugeschminkte Mittsechzigerin mit lila Acrykrallen starrt auf die blinkenden Lichter vor sich. Aus den Lautsprechern ertönt „Paradise City“, von allen Seiten dudelt es. Ich schiebe der Kassiererin einen Fünfdollarschein unter dem Gitter des Kassentresens durch und bitte sie, den in Quarters zu wechseln „Für die Waschmaschinen“ fühle ich mich genötigt klarzustellen und ernte einen gleichgültigen Blick.
Als die Säufersonne endlich aufgeht und die Lichter am Main Station Hotel wieder blinken, sind wir wieder ausgehfein. Die Gegend um das Main Station Hotel, das „alte Vegas“ ist deutlich trashiger als das neue Zentrum am Strip, das erst seit den 80gern gewachsen ist. Eine zum Dach aufgespannte Leinwand blinkt in allen Farben, über unsere Köpfe fliegen Leute an einer Zipline hinweg, ein Mann hält ein Schild „My Penis is brocken. Can I put it in your ass? Please donate“. Ein Miss Piggy Verschnitt in engem kurzen Brautkleid und roten Stilettos stakst uns entgegen, der Wind hat den Schleier auf Halbmast gesetzt, ihr frischer Ehemann im passenden roten Hemd zieht einen Trolley hinter sich her. Aus den Boxen ertönt überlaut „Material Girl“, Panflöten versuchen, sich Gehör zu verschaffen und ein Mann trommelt auf umgestülpten Farbeimern, dazu tanzen angetrunkene Damen aus Montana. Es ist Valentinstag, überall werden Rosen verkauft. Eine alte Frau mit kleinem Hund bittet um eine Spende. Zu ihren Füssen sitzt eine dauergewellte Endzwanzigerin mit viel Kajal um die Augen. Sie knutscht den Hund immer wieder, wischt mit ihrem Gesicht von links nach rechts über dessen Schnauze, während der Hund sich irritiert ihren Rotz von der Nase leckt. Die Bettlerin ist genervt, versucht ihren Hund ein Stück zur Seite zu ziehen, erfolglos.
Vor einem Restaurant, dessen Namen etwas mit „Heart Attack“ zutun hat, steht eine gigantische Viehwaage vor der Tür. Wer mehr als 350lb wiegt, isst hier frei. Drinnen sitzen die Menschen in Krankenhauskitteln, die hinten offen sind, die Stühle scheinen stabiler als sonstwo. Wir kommen vorbei an Wedding Chapels, vor deren Tür Oldtimer oder Limousine für das Hochzeitsfoto geparkt sind. Nebenan kann man Anzug und Brautkleid mieten oder im Stripclub zwei Türen weiter seinen Junggesellenabschied feiern.
Uns zieht es wieder in den glamourösen Teil der Stadt. Hier treffen wir Barbie, und viele ihrer Freundinnen. Sie sind deutlich aufwändiger in Stand gesetzt, als die Frauen in der Fremont Street. Lachen können sie trotzdem nicht, vielleicht tun die frisch aufgespritzten Lippen weh oder das Botox hat ihnen diesen gleichgültig arroganten Gesichtsausdruck verliehen. Später am Abend kann man doch einen Hauch von Unglück in den Augen der hübschen Gesichter erkennen. Den Grund verrät ihr leicht hölzerner Gang und ein Blick hinunter auf die Absätze, welche die Beine der Damen um rund ein Drittel verlängern. Ob die Leute sich gar nicht an ihrem Reichtum freuen können, ob sie gar nicht froh sind, das alles sehen zu können, möchte Paula wissen. Eine berechtigte Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Im „Venetian“ wandeln wir im perfekt gedimmtem Abendlicht unter mediterranem Kunsthimmel durch die Straßen Venedigs, die venezianischer sind als das Original. Gondolieri schippern, inbrünstig vor sich hinschmetternd, verliebte Paare durch die Indoorkanäle. Im „Wynn“ Hotel klettern Meine-Coon- Kätzchen die Stämme des angelegten Dschungels empor, dezent versteckt stehen Futternäpfchen im Bodengrün. Hier blicken selbst die Verkäufer der Edelboutiquen gelangweilt ins Leere. Paula kann das alles nicht fassen, ruft immer wieder „Waaaaas? Ich liebe Vegas!“, sprudelt über vor Aufregung und Begeisterung und erreicht, was all der Prunk der Stadt nicht zu schaffen vermag: Ein flüchtiges Lächeln in die Gesichter einiger Passanten zu zaubern.
Als wir nach zwei Tagen Las Vegas Richtung Grand Canyon verlassen, übernimmt endlich wieder der Himmel das Kommando und gibt uns Raum, die Eindrücke dieser verrückten Stadt zu verarbeiten.