San Francisco

Als wir an einem späten Nachmittag im Sonnenuntergang über die Golden Gate Bridge fahren, jubeln und kreischen alle in der Fahrerkabine. Es ist nur eine Brücke, und doch verspricht ihre Überquerung in etwa das, was das Hasenloch bei „Alice im Wunderland“ bedeutet: Den Eintritt in eine völlig andere, verquere Welt. Und wie Alice im Wunderland, staunen wir uns in den folgenden Wochen in San Francisco durch die Straßen.

San Francisco gilt als das Epizentrum der US-amerikanischen Gegenkultur, nirgendwo in den USA geht es liberaler zu, so das Image der Stadt. Dass sie mit knapp 800.000 Einwohnern nur zu den mittelgroßen Weltstädten gehört, scheint bei ihrem legendären Ruf geradezu unglaublich. Ebenso unglaublich ist, dass Kiel, die unscheinbare, mitnichten glamouröse oder aufregende Hauptstadt Schleswig Holsteins in der Liste der Partnerstädte San Franciscos auftaucht. Es gibt aber auch Parallelen zwischen diesen beiden ungleichen Schwestern: Ähnlich wie Kiel im 2. Weltkrieg, wurde San Francisco 1906 durch ein Erdbeben dem Erdboden gleichgemacht. Kiel hat darunter gelitten, seinen Charme eingebüßt, San Francisco nicht. Mehr als 3000 Menschen starben bei dem Beben und den in der Folge ausbrechenden Bränden, die San Francisco für mehrere Tage in ein Flammenmeer verwandelten. Innerhalb von nur 9 Jahren allerdings, war die Stadt wieder aufgebaut, erstrahlte zur Eröffnung der Panama-Pacific International Exposition 1915 in neuem Glanz. Das Wappentier San Franciscos ist seitdem der Phönix. Ähnlich wie in Vancouver erwartet man auch in San Francisco (und LA) seit Jahrzehnten ein Megabeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in den nächsten 20 Jahren kommt, liegt, laut eines Spiegel Artikels, bei 99,7 %. Dann, so befürchten viele, werden sich die damals für den schnellen Wiederaufbau der Stadt gelockerten Sicherheitsvorschriften rächen. Aktuelle Analysen gehen davon aus, dass selbst ein geringeres Beben als das von 1906 große Teile der Stadt zerstören würde und viele tausend Tote zur Folge hätte. Diese Aussicht rüttelt ein kleinwenig sowohl an Vancouvers, als auch an San Franciscos Platz an erster Stelle unserer „Liste“.

San Francisco ist größtenteils, wie so viele andere amerikanische Metropolen, auf dem Reißbrett geplant worden. Außer Acht gelassen haben die Planer dabei, dass die 42 Hügel der Stadt, wenn man ihnen die Kurven verbietet nur über extrem steile Straßen (bis zu 18% Steigung) zu erreichen sind. Man erfand daher die Cableway, eine Straßenbahn, die ähnlich wie eine Gondel, allerdings von der Unterseite, von in der Straße verlaufenden Seilen gezogen wird. Seit dem frühen 1900 hat diese ihr Aussehen nicht verändert, rattert wunderbar nostalgisch die steilsten Berge der Innenstadt hinauf.

Wie in Vancouver, mieten wir in San Francisco über Air BnB ein Haus. Hier wollen wir zusammen mit Oma Karin und Paulas Patenonkel Hendrik, die aus Deutschland und Spanien eingeflogen kommen, Weihnachten und Sylvester feiern. Als wir das Haus aussuchen, machen wir den selben Fehler wie San Franciscos Stadtplaner. Wir achten nicht auf die Hügel und enden so auf dem Höchsten der Stadt, zu Füßen des Sutro Towers. Die nächste Einkaufsmöglichkeit ist einen strammen 25 Minuten Fußmarsch bergab und einen quälenden Wiederaufstieg entfernt. Für jede Kleinigkeit müssen wir Roger bewegen, der uns die vielen Steigungen extrem übel nimmt. Er knattert wie eine Nähmaschine, verliert von Tag zu Tag an Kraft, kriecht bald nur noch im Schritttempo und dunkelgraue Wolken spuckend die Hügel hinauf. Hinter uns bilden sich lange Autoschlangen, um uns herum Busse, Straßenbahnen, die Cableway, Fußgänger und Fahrradfahrer (nicht die mit Hollandrad und Körbchen vorne dran, sondern solche in engen Trikots, mit hektisch blinkenden Lichtern). Alle 50 Meter zwingen 4way Stopps zum ewigen Wechsl zwischen Halten und Anfahren. Die ohnehin angeschlagenen Bremsen leiden, Roger pfeifft auf dem letzten Loch. Kurz vor Weihnachten dann scheinen die Verwünschungen der anderen Autofahrer erhört zu werden: Roger will nicht mehr, muss in die Werkstatt.

Nach langem Suchen findet Timm in Oakland, auf der gegenüberliegenden Seite der Bay, eine Werkstatt, die auf Trucks spezialisiert ist. Der Weg aus der Stadt hinaus ist eine Zerreißprobe für Nerven und Rogers Motor. Mehrmals droht er liegenzubleiben, einzig unsere Armee Schutzengel schafft es, dass Roger und Timm heil in der Werkstatt ankommen. Die Gegend ist nicht vertrauenserweckend. Oakland gilt als die gefährlichste Stadt Kaliforniens mit weit über 500 Schießereien und mehr als 100 Mordopfern im Jahr. Es ist ein Ort, in dem vermummte Männer schon zwei Straßenbahnstopps vorher aufstehen, auf der Stelle springen, ihr in den Scheiben gespiegeltes Gegenüber boxend herausfordern- sich warm machen für das, was beim Aussteigen auf sie wartet.

Angeblich leben in San Francisco mehr Hunde als Kinder. Glauben wir gern. Obwohl sich „unser“ Haus, wie in Vancouver, in einer Familienwohngegend befindet, sehen wir in den vier Wochen, die wir dort wohnen, nicht ein einziges Kind auf der Straße. Viele Hunde allerdings, gekleidet in rosa Rüschen, Norwegerpullimuster oder zur Jahreszeit passend mit Rentiergeweih, manchmal im Partnerlook mit Herrchen oder Frauchen.

Ebenfalls wie in Vancouver, blicken wir vom Wohnzimmerfenster aus durch das Pinien-und Eukalyptusgrün auf einen Schulhof. Unsere Kinder sind hoch motiviert, wollen auch hier ins Schulleben schnuppern. Obwohl wir mehrere Schulen im Umkreis abklappern, bekommen wir überall dieselbe Auskunft. Wir müssen uns offiziell bei der Schulbehörde registrieren (was für zwei Wochen ein zu großer Aufwand wäre). Ein Visum braucht man dazu in San Francisco nicht, so der Schulleiter der Grundschule unterhalb unseres Wohnzimmerfensters. San Francisco sei ein Schutzgebiet, hier gelten andere Gesetze, sagt er, dreht dabei den indianischen Silberring an der rechten Hand und lächelt Barack Obama zu, dessen Portrait noch immer über seinem Schreibtisch wacht. In San Francisco ist man linksliberal, wischt sich mit Toilettenpapier, auf dem das Gesicht des jetzigen Präsidenten gedruckt ist, den Hintern ab. In den Fenstern hängen #notmypresident Poster, Spanisch ist allgegenwärtig, Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft prägen das Straßenbild, über den Eingängen von Gemeindezentren hängen Banner mit der Aufschrift „Refugees welcome“.

Darauf wäre der Namensgeber der Stadt, der Heilige Franz von Assisi, sicher stolz. Vieles andere hingegen, ließe ihn im Schleudergang im Grabe rotieren.

In „Castro“ flanieren aufgemotzte Drag Queens die Straßen, ein Mann zischt mit Glitzerrollschuhen und Silberrucksack, oben ohne , stattdessen eingeölt, an ihnen vorbei, zwei Mädchen lutschen verschämt an einem Eis in Pimmelform mit Sahnehaube. Überhaupt sind Pimmel hier sehr präsent. Von überall werden uns Zweideutigkeiten ins Gesicht gerammt. Das Nagelstudio heißt „Handjob“, der Bäcker verkauft Cookies in Penisform, gerne im Doppelpack mit hellem und dunklem Schokoguss. In den Schaufenstern hängen Unterhosen mit der Aufschrift „Big in Japan“. „Die nehmen Dödel hier ein wenig zu wichtig“, findet Paula und ich muss ihr beipflichten, bin genervt von diesem aggressiv plakativen Zelebrieren von Homo- oder welcher Sexualität auch immer.

Die Stadt ist bunt und inspirierend, wuselig und anstrengend. Es ist wie in einem 4D  Wimmelbilderbuch gefangen zu sein. In Lichtgeschwindigkeit verändern sich die Bilder, bevor ich sie fassen kann, setzen sich wie in einem Kaleidoskop in Sekunden immer wieder neu zusammen. Zeit hat hier eine andere Bedeutung, verglüht geradezu. Alle machen permanent mehrere Dinge gleichzeitig, scheinen die überall präsenten weißen Stöpsel im Ohr implantiert zu haben. Wir sind im Sillicon Valley: In der U-Bahn liest niemand Zeitung oder ein Buch, niemand schaut aus dem Fenster oder auf sein Gegenüber. Stattdessen schreibt man Emails, spielt Spiele, bestellt online den Salat fürs Abendessen oder den fertig geschmückten Weihnachtsbaum. Es dauert keine 12 Stunden, bis in unserem Haus eine Internetverbindung installiert ist, jeder ist rund um die Uhr erreichbar und beschäftigt. Um gesehen zu werden, muss man darum etwas dicker auftragen. Jegliche Form der Selbstdarstellung ist erlaubt, vielleicht sogar erwünscht. Alles ist möglich. Vollbart zu mohnrotem Lippenstift, Yogaleggings und Cowboystiefeln ebenso wie „unten ohne“ bei 7 Grad am Strand. Männer tragen bunt lackierte Acrylnägel, Frauen Smoking, Obdachlose tanzen zu den Trommeln der Straßenmusikanten in trauter Zweisamkeit mit Hipstern, elektronische Fußfesseln zeigt man stolz durch hochgekrempelte Hosenbeine, „fuck you bitch!“ ist eine legitime Begrüßungsformel. In Asbury Hights sitzt man mit baumelnden Beinen auf den Fensterbänken und kifft, ein Mann benutzt die Straßenlaterne als Poledance- Stange, beherrscht die Bewegungen, tanzt mit einer Anmut, die nicht zu seiner vollgekackten Hose passt. Auch in San Francisco sind zugedröhnte Homeless People allgegenwärtig, wundert es niemanden, wenn ein junges Mädchen sich vor einem Schaufenster krümmt und jede Wimper einzeln versucht auszureißen. Und doch wirft das keinen Schatten auf die Großartigkeit dieser Metropole. Gehört zum Gesamtbild wie die viktorianischen Häuser, deren Fassaden die steilen Hügel schmücken. Wie die kunstvoll gesprühten Murals, die besonders die Gassen Chinatowns zieren, wie die Surfer, die die Wellen am endlosen Ocean Beach reiten. In San Francisco prallen Gestern, Heute und Morgen in einer Weise zusammen, die uns Herz, Augen und Ohren durchpusten. Nichteinmal die Jahreszeiten halten sich hier an Regeln: Unter einem rot gefärbten Ahorn blühen Kapuzinerkresse, Hortensien, Rosen und Geranien, im Hintergrund glitzern die Lichter eines Weihnachtsbaumes.

Die Luft riecht nach Frühling, es ist mild, mir fehlt Weihnachtsstimmung. Umso dankbarer bin ich, dass der Frühling an Heiligabend Pause macht, nasses Grau vom Himmel stürzt und die Kerzen in vertrautem Weihnachtsdunkel leuchten können. Alles soll so sein wie zu Hause, die Kinder sollen nichts vermissen müssen. Als der Baum gewohnt rotgoldweiss geschmückt vor uns steht, die ersten drei Kerzen am Adventskranz brennen, der bunte Teller mit Lebkuchen bestückt ist, fragt Paula enttäuscht: „Und wann feiern wir dann wilde Weihnachten?“ Ich bin verwirrt. Mühsam um Fassung bemüht beichtet mir Paula, dass unser Weihnachten auf der Afrikareise, ohne Tannenbaum, stattdessen mit einer muschelgeschmückten Agave am weißen tanzanischen Strand, ohne Lebkuchen und fast ohne Geschenke ihr schönstes Weihnachten gewesen ist. Dass sie sich schon die ganze Zeit auf wilde Reiseweihnachten gefreut hat. „Dieses Jahr feiern wir zahme Weihnachten in einer wilden Stadt, nächstes Jahr bekommst Du wilde Weihnachten“, verspreche ich ein wenig vor den Kopf gestoßen.

USA

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