Nach 2 Monaten auf Reisen
Seit unserem Aufbruch in Deutschland sind wir 8200km gefahren, davon 6800 km in Kanada. Durchschnittlich sind das 160km/Tag. Das hört sich nicht viel an, sieht auch nicht nach viel aus, wenn man die Dimensionen Kanadas betrachtet und sich vor Augen führt, dass wir bis Vancouver allein noch mehr als 2000 km vor uns haben. Die Schleife über Alaska würden weitere 7000 km bedeuten. Schon jetzt sitzt uns der Herbst im Nacken, es wird jeden Morgen ein wenig kühler. Schweren Herzens haben wir daher beschlossen, nicht nach Alaska zu fahren, lieber das was auf dem Weg nach Vancouver liegt zu genießen, mehr Pausen einzulegen. Anders als in Afrika ist nicht das Reisen selbst besonders strapaziös. Die Straßen, Einkaufen oder Tanken sind keine Herausforderung. Bis auf ein paar Minireperaturen macht auch Roger bisher keine Probleme und seit Timm das Gaspedal ganz durchtreten kann, werden wir nicht mehr von Amish Kutschen überholt. Und doch waren die letzen zwei Monate alles andere als ein Urlaub, sind die Fahrtage anstrengend.Timm hat die beneidenswerte Fähigkeit, die Funktion seiner Ohren durch bloßen Willen einzuschränken, zumindest behauptet er das. Für mich ist der Lärmpegel in der Fahrerkabine oft schwer auszuhalten, ist vergleichbar mit einer Kindergeburtstagsfeier auf einem Autobahnparkplatz mit Rammstein als Special Act. Der Motor brummt nicht, er brüllt, ebenso die Lautsprecher, und die Kinder auf der Rückbank. Manchmal auch Lotta wenn sie die Musik nicht mehr hört, oder ich wenn ich zu irgendjemanden durchdringen möchte. Der Einzige der nie brüllt, ist Timm aber er hört ja auch nichts. Bevor wir unterwegs waren hatte ich phantasiert, dass wir uns ganz entspannt im Wohnkoffer aufhalten könnten, sollte uns „Cabin Fever“ heimsuchen. Das ist allerdings nur dann zu empfehlen wenn man den Aufenthalt in einer Waschmaschine bei Schleudergang als erholsam empfindet. Ich gewöhne mich daran, langsam.
Dass wir nur sehr langsam voran kommen liegt vor allem an der Zeit, die wir jeden Tag für die Schule einplanen müssen. Ursprünglich hatten wir gehofft, dass wir die Fahrzeit mit dem Unterricht verbringen könnten. Schule im Schleudergang allerdings funktioniert nicht und so besteht unser Durchschnittstag im Moment aus 3 Stunden Schule am Morgen und zwei Stunden Fahren am Nachmittag. Unsere Reise soll eine Bereicherung für die Kinder sein, auf keinen Fall soll ihre Schulbildung leiden. Entsprechend diszipliniert stehen wir am Morgen auf und ziehen unseren Schulmorgen durch. Wir haben uns aber auch gesagt, dass wir auf keinen Fall die Schule zu einem Stressfaktor auf der Reise machen wollen, dass wir kein Problem damit haben, wenn eines der Kinder am Ende unserer Reise ein Schuljahr wiederholen sollte. Die Tatsache dass wir das nicht schlimm fänden ist für die Kinder Drohung genug, sie wollen natürlich auf jeden Fall wieder in ihre alte Klassenstufe zurück. Es ist ein Drahtseilakt den Kindern genug Eigeninitiative abzuverlangen und sich nicht für alles verantwortlich zu fühlen und es ist schwierig sowohl Eltern als auch Lehrer zu sein. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass unsere Kinder mit ihren Lehrern nicht so geredet haben wie sie manchmal mit uns reden. Wir alle wachsen an dieser Aufgabe, ich muss aber zugeben, dass es nicht meine Lieblingsaufgabe ist. Ich nehme es sehr ernst, sehe es als Chance das Lernverhalten, die Stärken und Schwächen unserer Kinder so hautnah mitzubekommen, kann aber nicht sagen, dass es mir leichtfällt oder dass es mir eine Riesenfreude ist. Ich bin keine geborene Lehrerin, muss mich sehr zusammenreissen nicht die Geduld zu verlieren. Je weniger Yoga ich mache, desto anstrengender wird der Schulmorgen für uns alle. Timm ist deutlich geduldiger, hat sogar wirklich Freude am Unterrichten, bereitet sich am Abend auf seine Lieblingsfächer Physik, Chemie und Mathe vor. Auch Zickereien und schlechte Stimmung perlen meistens an ihm ab, was wiederum mit seinen beneidenswerten Ohren zusammenhängen könnte. Vor besondere Herausforderungen stellt uns die Enge in Roger. Solange das Wetter schön war, konnten wir Teile des Unterrichtes nach draußen verlagern, konnten die Kinder voneinander trennen damit sie sich nicht gegenseitig stören. Timm hat mit Paula zusammen einen aufklappbaren Tisch gezimmert mit dem sie im Fahrerhaus sitzen kann. Langsam allerdings wird es dort morgens zu kalt uns wir stehen vor einem Platzproblem. Auch das rege Interesse der Leute hält uns manchmal von der Arbeit ab. Auf der einen Seite freue ich mich jedes Mal über die Begeisterung mit der so viele auf Roger reagieren, auf der anderen Seite ist es auch manchmal ermüdend dieselbe Geschichte immer wieder zu erzählen, besonders wenn wir gerade mit den Kindern lernen, unsere Einkäufe einpacken, kochen oder versuchen uns zu orientieren. In solchen Momenten fühle ich mich schrecklich, wenn ich kurzangebunden bin und nicht nicht so freundlich reagieren kann, wie es die Leute verdienen würden.
Bisher waren in Deutschland Sommerferien und alle Freunde der Kinder waren unterwegs. Mit Schulbeginn und dem Wissen, dass alle Freunde nun wieder jeden Tag zusammen sind, wird vielleicht auch das Heimweh kommen. Bisher halten wir an der Regel fest, dass die Telefone der Kinder nur einmal wöchentlich gecheckt werden können.
Die Gefahr durch ständige Nachrichten von zu Hause nicht im Jetzt und Hier zu sein ist zu groß und bis jetzt finden die Kinder diese Vereinbarung auch völlig in Ordnung. Bisher sind die Kinder glücklich und ausgeglichen, sind viel draußen, lesen bis die Kindle rauchen. Wir sind aber darauf vorbereitet, dass nicht immer alles so unproblematisch laufen wird, hoffen noch ein bisschen Zeit zu haben bis der erste Reiseblues uns heimsucht. Die Pause am Lake Superior war dringend notwendig, um die Eindrücke ein wenig sinken zu lassen. Auch wenn es extrem spannend ist, jeden Tag etwas Neues zu erleben, andere Menschen zu treffen und am Morgen nicht zu wissen wo man die Nacht verbringen wird, braucht man ab und zu doch einen Tag an dem man einfach nur rumdaddelt, ohne Auftrag, ohne diesen Drang alles mitzunehmen was die Umgebung bietet.
Ich hatte gedacht, mir mit der Reise durch Kanada einen Lebenstraum zu erfüllen, endlich etwas von meiner „To do before I die“ Liste streichen zu können. Statt allerdings zu schrumpfen, wächst die Liste mit jedem Tag. Es reicht nicht, den Lake Superior gesehen haben und in ihm geschwommen zu sein, nein, ich möchte wiederkommen, ihn im Winter sehen, ich möchte den 65km langen Coastal Trail wandern, möchte mehrtägige Kanuwanderungen unternehmen, möchte hören, wie die Wasserfälle ich der Schneeschmelze die Berge runterrauschen. Die Liste wächst und wächst und ich bekomme Panik, dass mein Leben nicht mehr reichen wird, all diese Dinge zu erleben. Ich hatte ein bisschen Sorge, dass ich mir vielleicht zu viel von Kanada versprochen habe, dass meine Erwartungen enttäuscht werden könnten. Ach wäre es bloß so gewesen! Dann hätte ich einen Haken machen können.
Seit wir in Halifax aufgebrochen sind, haben wir jede Nacht am Wasser verbracht. Timm Trüffelnase (wieder ein bemerkenswertes Organ) hat uns jedes mal zielsicher an die schönsten Stellen geführt. Meistens haben wir wild gecampt, waren fast immer willkommen. Sicherlich verdanken wir das zu einem großen Teil Roger und seinem ungewöhnlichem Äußeren. Er hat uns viel nette Bekanntschaften, Gespräche und Einladungen beschert. In Deutschland allerdings wäre es uns trotz Roger deutlich anders ergangen. Während man bei uns zu Hause eher abwartend und zurückhaltend auf Fremde zugeht, sie erst einmal beschnuppert um dann zu entscheiden ob man sich weiter mit ihnen befassen will, gehen Kanadier scheinbar davon aus, dass das Gegenüber auf jeden Fall „Freundmaterial“ sein könnte. Sie scheinen freundlich, aufmerksam und interessiert am Gegenüber. Hier ist Platz für die unterschiedlichsten Menschen, Sprachen, Glaubensrichtungen, niemand baut Zäune, man respektiert sein Gegenüber.

Am Lake Superior und den benachbarten großen Seen befinden sich viele Siedlungen der Amish People. Die Amish, hauptsächlich Nachfahren deutscher und schweizer Einwanderer, leben auch heute noch wie vor 300 Jahren. Sie sind streng gläubig, lehnen technischen Errungenschaften ab, benutzen kein Telefon, haben keinen Fernseher, kein Internet und heizen mit Holz. Sie kleiden sich schlicht, die Frauen lange Röcke und Kopftücher, die Mädchen lange Kleider und weisse Hauben, die Jungen Strohhüte und Hosenträger. Sie fahren mit der Kutsche, manchmal viele Meilen entlang des Highways, um ihre Handarbeiten oder landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu verkaufen. In Kanada gibt es ein Straßenschild, dass auf die Amish Kutschen hinweist, die Autofahrer nehmen Rücksicht- ein Unfall mit einer Amish Kutsche ist unverzeihlich, erzählt uns ein Mann an der Tankstelle. Wir sehen viele Amish entlang des Highways, Kinder die von der Schule kommen, kaufen Pfirsiche und Marmelade bei Ihnen, sehen den Männern bei der Heuernte zu. Gerne hätte ich Fotos gemacht, respektiere aber selbstverständlich ihren Wunsch nicht abgelichtet zu werden, da auch der Fotoapparat eine technische Neuerung ist, die sie nicht unterstützen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass eine solche Lebensweise in Deutschland akzeptiert werden würde. Allein an der Schulpflicht würden die Amish verzweifeln.
Mit indianischer Kultur, hier First Nations genannt, hatten wir bisher nur sehr sporadisch Kontakt. Wir sind ab und zu durch First Nation Gemeinden (Reservate) gefahren, haben auch hier gecampt. Neben der Freundlichkeit der Leute ist uns hauptsächlich aufgefallen, dass die Siedlungen häufig rumpeliger, manchmal völlig vermüllt, ärmlicher wirken, plötzlich Plakate am Wegesrand auftauchen, die verkünden, dass Alkohol und häusliche Gewalt keine Option sind. Das mag aber Zufall sein und ist sicher nicht stellvertretend für alle First Nation Gemeinden. Meine Google Recherche allerdings hat ergeben, dass der Verlust kultureller Wurzeln u.a. durch die versuchte „Umerziehung“ in sogenannten Residential Schools erhebliche soziale Folgen hat. Bis in die späten 1990 ger Jahre wurden Kinder der Ureinwohner zwangsweise in Internaten eingeschult, um sie von ihren Eltern und deren kulturellen Einfluss fernzuhalten. Es war ihnen verboten, ihre indianische Muttersprache zu sprechen, sie wurden gezwungen English und Französisch zu lernen, sie litten unter zahlreichen psychischen und physischen Übergriffen. Etwa 6000 Kinder sollen an den Folgen dieser Übergriffe gestorben sein. Zwar wurden die Residence Schools Ende der 90 ger Jahre geschlossen und der kanadische Staat entschuldigte sich 2008 öffentlich für diese Verbrechen, an den Folgen allerdings leiden damalige Schüler trotz Aufarbeitung, Therapie und Reparationszahlungen noch immer. So sehr sich der kanadische Staat heute bemüht, indigenen Völkern ihre Lebensgrundlagen, ihre Kultur und ihre angestammten Gebiete zurückzugeben, sind die Folgen sozialer Benachteiligung und kultureller Entwurzelung ein großes Problem, die sich vor allem in Drogenmissbrauch, Alkoholkrankheit, häuslicher Gewalt und Selbstmord äußern.
Meine rosarote Brille bekommt kleine Sprünge, selbst Kanada hat Schattenseiten, hat eine extrem grausame Vergangenheit, die aber zumindest, so scheint es, öffentlich diskutiert und aufbereitet wird. Und Im Grunde erstaunt es mich, dass dieses Land trotz extremer kultureller Vielfältigkeit und sozialer Unterschiede, trotz Vielsprachigkeit ein so friedlicher und sicherer Ort ist.
Hallo Michaela
Mir macht es immer wieder Freude euren Blog zu lesen, doch ich habe mich immer wieder gefragt, was ihr um diese Jahreszeit im Hohen Norden wollt. Aus gutem Grund. Wir sind vor knapp 2 Wochen von unserem 6 Monatstrip aus Alaska und Kanada zurück und haben, zuletzt, einen Teil eurer Strecke in umgekehrter Richtung gefahren. Der Indian Summer ist wunderschön, doch wenn die Sonne nicht scheint ist es sehr grau und duster, die Tage sind auch sehr kurz und es wird immer schlechter. Im Norden von Kanada und Alaska hättet ihr euch später nur noch auf Parkplätze stellen können, wenn sie denn vom Schnee geräumt wären. Alles in allem keine gute Aussicht mit Kindern. Aber ihr habt ja noch die Kurve gekriegt. Ich glaube dazu gab es wirklich keine Alternative. Ich wünsche euch weiterhin viel Spaß und freue mich auf die nächsten Berichte.
Lieben Gruß Jochen
Lieber Jochen
Vielen Dank Für Dein Feedback! Da wir das Schuljahr der Kinder in Deutschland beenden wollten sind wir leider zu spät losgefahren, mindestens 6 Wochen zu spät. Ein bisschen blauäugig hatten wir gehofft, es schon irgendwie bis Alaska zu schaffen, was natürlich mit Kindern und langsamem Auto totaler Quatsch ist. Ab Oktober sind die meisten Campingplätze geschlossen, was nicht ein riesen Problem ist, aber die Kälte und das Grau haben uns dann doch überzeugt. Dir eine gute Eingewöhnung in der Heimat! Liebe Grüsse