Costa Rica

Meine Tränendrüsen sind äußerst spendable Organe. Schon immer. Es braucht nicht viel, sie zu aktivieren. Noch nie allerdings, habe ich beim Anblick eines Müllautos geweint, jedenfalls bis jetzt. Die ersten 24 Stunden in Costa Rica fühle ich mich wie ein Kind im Spielzeugladen, weiß nicht, was mich am meisten begeistert. Die Straßen sind gut ausgebaut, die Autos wirken verkehrstüchtig und wir müssen keine Angst haben, dass die Stoßstange des Vordermanns in naher Zukunft ein Hindernis auf der Fahrbahn darstellen könnte. Das Laubgewimmel der Büsche, Bäume, Gräser strahlt in den verschiedensten Grüntönen von erbsengrün über sahnespinatfarben bis zu jägermantelgrün. Noch nie habe ich so viele verschiedene Blattgrößen und -formen auf so engem Raum gesehen, es wirkt wie ein Wimmelbuch für Botaniker. Costa Rica, zu deutsch „reiche Küste“, scheint genau das zu erfüllen, was der Name verspricht.

Das nur 51.000 Quadratkilometer große Land ist das artenreichste der Erde, beherbergt mit 500.000 Arten vier Prozent der weltweit angenommenen Arten. Rund 27 % der Landesfläche stehen unter Naturschutz, ⅔ Costa Ricas sind bewaldet. Schon früh hat man erkannt, dass der Reichtum des Landes diese Biodiversität ist, hat den Ökotourismus stark gefördert. 100 % seines Strombedarfs deckt Costa Rica aus regenerativen Quellen wie Wasserkraft, Geothermie und Windkraft. Das Land gilt als eines der fortschrittlichsten Lateinamerikas, schon während des Zweiten Weltkrieges war in Costa Rica ein kostenloses Gesundheitssystem eingerichtet worden, 1948 wurde die Armee abgeschafft und die frei gewordenen Mittel in das Schul-, Renten- und Gesundheitssystem investiert. Anders als die Nachbarländer litt Costa Rica nicht unter Bürgerkriegen, Unruhen und Diktaturen, sondern ist seit den 1950ger Jahren eine stabile Demokratie. All diese Umstände brachten Costa Rica den Beinamen „die Schweiz Lateinamerikas“ ein. Und genauso wie die Schweizer zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen, ist auch Costa Rica auf der Liste des jährlich ermittelten World Happiness Reports  auf Platz 12 von 156 Ländern (2019 ist Deutschland auf Platz 17, Tendenz fallend). Und auch auf der von Reporter ohne Grenzen herausgegebenen „Rangliste der Pressefreiheit“ belegte Costa Rica 2019 Platz 10 von 180 Ländern.

All das weiß ich noch nicht, als wir auf der Landstraße Richtung San Jose, der Hauptstadt Costa Ricas  fahren. Der Müllaster aber, der uns zum Halten zwingt, die Männer, die die ordentlich gestapelten Säcke in dessen Bauch veschwinden lassen, winken und Pura Vida rufen, sind mir zu viel. Die ganze Anspannung der letzten Wochen verflüssigt sich wie ein Platzregen und ich schluchze: „So schön hier, …sogar…Müllautos!“

Nirgends sehe ich bewaffnete Sicherheitsleute, keinen Natodraht, nur hohe Zäune und ab und zu vergitterte Fenster in gepflegten Gärten. Kein einziger magerer Straßenhund springt vor unseren Truck, am Straßenrand sprudeln glasklare Bäche und es riecht nach frisch gemähtem Gras und Blumen. Und obwohl wir in immer kürzeren Abständen anhalten müssen, weil Timms Rücken schmerzt, flattert mein Herz mit den Schmetterlingen am Wegesrand: Wir sind angekommen in der Zivilisation! Hier, das spüren wir alle sofort, sind wir sicher. Hier können wir uns endlich um Timms Rücken kümmern, können uns ausruhen und überlegen, wie es weiter geht. Wir müssen nicht bis Kolumbien durchhalten, Costa Rica ist eine echte Alternative.

Doch bevor wir uns in unserem Airbnb entspannen dürfen, müssen wir nach San Jose, in die Hauptstadt Costa Ricas, um dort ein wichtiges Dokument in der deutschen Botschaft abzuholen. Obwohl die Distanzen in Costa Rica nicht weit sind, dauert jede Fahrt ewig. Der Großteil der 5 Mio Einwohner des Landes leben rund um die Hauptstadt San Jose, im Valle Central. Über die zweispurige Mautstraße, die R27, quälen sich in nicht enden wollenden Blechschlangen die Autos Richtung Innenstadt und am Abend wieder hinaus. Der Verkehr ist, wenn man Costa Rica schwerwiegende Probleme anhängen möchte, eines. Es staut sich an jeder Aus-und Auffahrt, an der Mautstation stehen wir ewig. Reißverschlussprinzip kennt hier niemand, stattdessen wird gehupt und gedrängelt und jede noch so kleine Lücke sofort geschlossen. Wir brauchen 2 Stunden für 30 Kilometer, kommen gerade noch rechtzeitig, um unser Dokument in Empfang zu nehmen. Danach geht es weiter zur Autovermietung, wo wir uns für die nächsten zwei Wochen ein Auto gemietet haben, um flexibler zu sein.

Atenas, warum auch immer benannt nach der Hauptstadt Griechenlands, ist ein 5.000 Einwohner Städtchen, 35 Km von San Jose entfernt. Umgeben von Bergen und Kaffeeplantagen und dominiert von Landwirtschaft, hoffen wir, uns hier für die nächsten zwei Wochen zu erholen und zu überlegen, wie es weiter geht. Seit in den 70ger oder 80ger Jahren ein National Geographic Journalist dem Städtchen das beste Klima der Welt zugeschrieben hat, prangt dieser Satz an jeder Bushaltestelle, an den Ortsschildern und wird stolz von jedem Einwohner beteuert. Die Temperaturen sind, anders als an der im Sommer sehr heißen Pazifikküste und der feuchtschwülen Karibikküste das ganze Jahr über stabil. Nachts 19 Grad, tagsüber höchstens 34, im Durchschnitt 26 Grad.

Während ich versuche, im dichten Verkehr mit dem Mietwagen Timm zu folgen, schwöre ich ganz entgegen meinen yogischen Prinzipien beim Auto fahren in Zukunft ein Arschloch zu sein. Einmal eine Lücke gelassen, einmal jemanden vorgelassen wird der Abstand zwischen Timm und mir immer größer. Ich werde von allen Seiten überholt, LKW quetschen sich an mir vorbei, hupen ungeduldig, ignorieren meine gewinkten Bitten, mich vorzulassen. Will man in Costa Ricas Straßenverkehr bestehen, muss man sich von „Pura Vida“ verabschieden und in den Überlebensmodus schalten. Und dann, sofort nach dem Parken wieder zurück in „Pura Vida“.

„Pura Vida“ ist das „Moin“ Costa Ricas- und noch viel mehr. Es heißt „hallo“, „guten Tag“, „herzlich willkommen“, „Danke“, „bitte“, „mach Dir keine Sorgen“, „guten Appetit“, „gute Nacht“, „sehr erfreut“ und passt eigentlich immer. Auch unsere Vermieterin begrüßt uns mit diesen Worten, nachdem wir die holperige Zufahrt zum Haus bezwungen haben. Auf Airbnb sah das Haus wundervoll aus, jetzt aber bleibt mir fast die Spucke weg. In einem gigantischen Garten steht in Alleinlage zwischen Bäumen das schönste Haus, das ich seit langem gesehen habe. Es ist umgeben von einer überdachten Veranda, überall Sitzecken und Hängematten, selbst einen Rollstuhl könnte ich hier den ganzen Tag mit dem Stand der Sonne ums Haus schieben und die Aussicht wäre immer wieder anders. Etwas oberhalb des Hauses wohnt ein junges Verwalterpaar aus Nicaragua mit ihren beiden Töchtern (9,3), zum Haus gehören drei Hunde, die im Schatten der Veranda schlummern. Im Garten glitzert ein blauer Pool, Iguanas huschen die Bäume hinauf, Nachbars Hühner scharren im Gras, Kolibris surren an mir vorbei, verschwinden in den Blüten des wilden Ingwer. Bis vor kurzem hat hier Mariechens Bruder mit seiner Familie gewohnt, ist aber, weil der Verkehr zu anstrengend geworden ist, näher an die Stadt gezogen. Wir sind die ersten Gäste, seit seine Familie ausgezogen ist, erzählt uns Mariechen, deren Name von einem deutschen Opa stammt.

„Ob wir auch sechs Monate bleiben können“ höre ich Timm fragen, wundere mich kein bisschen über diese Frage, habe auch nicht das Gefühl, dass wir noch einmal darüber reden sollten. Alles an diesem Ort schreit „Bleibt!“, sogar der Unterstand auf der Rückseite des Hauses ist hoch genug, um Roger dort zu parken.

Sie wird es mit ihrer Familie besprechen, lächelt Mariechen und überlässt uns der Obhut von Maria, die sich ab jetzt um uns kümmern wird.

In den nächsten Tagen überschlagen sich die Ereignisse. Mariechens Familie ist nicht nur einverstanden, uns hier 6 Monate zu beherbergen, sondern macht uns sogar ein äußerst großzügiges Angebot. Costa Rica, so sagt sie, verfüge über ausgezeichnete Privatkliniken. Viele Amerikaner kämen hierher, um sich hier operieren zu lassen, weil die Kosten in den Staaten zu hoch sind. Es gäbe einen regelrechten Medizintourismus. Die oft weltweit ausgebildeten Ärzte sprächen häufig sehr gutes Englisch und die Methoden sein auf dem neusten Stand der Wissenschaft.

Schon oft in unserem Leben hatten wir das Gefühl, dass wenn wir auf dem richtigen Weg waren, sich scheinbar alle Türen automatisch öffnen. So ist es auch dieses Mal. Innerhalb von nur acht Tagen haben wir einen  Arzt gefunden, der Timm minimal invasiv operieren kann. Unsere Krankenkasse gibt sofort ihr OK, die Kinder haben die Zusagen von der deutschen „Humboldschule“ in San Jose und der  „bilingualen Green Valley“ Schule in Atenas. Wir beschließen, ein Auto zu kaufen, finden kurze Zeit später das perfekte Gefährt im Internet, haben, entgegen aller Geschichten über schreckliche Autoverkäufer in Costa Rica den herzlichsten und freundlichsten Verkäufer erwischt, den man sich wünschen kann. Er hilft mir bei der Zulassung, bei der Beurkundung, schickt mir Reminder was ich wann und wo zu erledigen habe, bietet seine Hilfe an, sollten wir sie brauchen. Mehrmals muss ich Timm aus dem Krankenhaus abholen, um im Krankenhauskittel und Tropfnadel im Arm kleckerweise den Geldbetrag für das Auto von unserer Kreditkarte abzuheben, deren Tageslimit eine einmaliges Abheben nicht zulässt. Dummerweise ist es die Zeit um den ersten des Monats. Zu diesem Datum werden die Pensionen ausgezahlt und die Schlangen vor den Banken sind endlos. Der Krankenhauskittel allerdings, das haben wir schnell raus, verhilft Timm zu einem Sitzplatz in der Behindertenabteilung und garantiert eine zügige Bedienung. Wenigstens etwas.

Die Humboldschule, die deutsche Schule in San Jose ist eine der begehrtesten Schulen des Landes. Obwohl schon alle Beiratsmitglieder im Urlaub sind, schafft es die Sekretärin, sie alle zu mobilisieren, um über unsere Aufnahme abzustimmen. Schweren Herzens entscheiden wir uns am Ende doch gegen sie. Der Verkehr ist einfach zu anstrengend, wir würden jeden Tag bis zu 4 Stunden im Auto verbringen. Obwohl allen Kindern außer Carl ein wenig mulmig ist, entscheiden wir uns für die Green Valley Schule, deren Unterrichtssprachen Spanisch und Englisch sind. Carl ist sofort Feuer und Flamme, und während die anderen drei ein Hindernis darin sehen, dem spanischen Unterricht folgen zu können, sagt er: „Wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Teerstraße und einer Schotterpiste mit Flussquerungen, würde ich immer die Schotterpiste wählen!“

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Und so begeben wir uns frohen Mutes auf die sinnbildlichen Schotterpiste. Als ich am Abend vor Timms Operation vor dem Krankenhaus ins Auto steige, leuchtet vor der untergehenden Sonne ein Regenbogen. Eigentlich wahnsinnig kitschig, in diesem Moment aber, da bin ich sicher, ein Zeichen, dass bald alles wieder gut sein wird.

Costa Rica

5 Comments Hinterlasse einen Kommentar

  1. Une belle preuve de volonté, de maîtrise et de courage. Bravo ! Surtout ne jamais baisser les bras; les larmes c’est seule, pas devant les enfants devant lesquelles tu dois rester un modèle. Courage à Timm qui devrait bientôt sortir de ce calvaire; nous attendons de vos nouvelles. Si vous le permettez, je vous embrasse tous.

  2. Ich habe diesen Blog empfohlen bekommen und muss wirklich sagen, es ist verdammt gut geschrieben. Es wirkt auf mich so als würde ich eine Geschichte aus einem Buch lesen, bloß mit dem Hintergedanken, dass es sich hierbei um die Realität handelt.

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