Chilcotin Valley & Bella Coola

Vor uns erstreckt sich die Hochebene des Chilcotin Valley, Wald, eisblaue Flüsse, fjordähnliche Seen, Wiesen, vereinzelte Ranches, am Horizont schneebedeckte Berge. Wir fahren seit Stunden den Highway 20, der hier, am gefühlten Ende der Welt längst nicht mehr geteert ist. Es ist First Nation Territorium, soll eine der letzten Wildpferdpopulationen Kanadas beherbergen. Hauptwirtschaftszweig ist die Rinderzucht, die Forstwirtschaft spielt, seit die Chilcotin und Tsilhqot’in First Nations dieses Gebiet als  Stammesgebiet verwalten, nur noch eine untergeordnete Rolle. Große Teile des Waldes scheinen uns sehr jung, sind großflächig eingezäunt. Wir glauben, dass es ihr ausgedehnte Waldbrände gegeben haben muss, dass die Zäune errichtet wurden, um den nachwachsenden Wald zu schützen, sind uns aber nicht sicher. Es ist unglaublich schön und friedlich hier oben. Die Herbstsonne taucht die Landschaft in ein goldenes Licht, es ist warm, die Kinder sitzen auf dem Dach, freuen sich über diese, auf der jetzigen Reise noch nicht allzu oft genossene Freiheit.

Vom Chilcotin Valley schlängelt sich der Highway 20 in teils sehr engen Kurven mit Steigungen bis zu 15% um 1800m hinab, bis er den kleinen Ort Bella Coola erreicht. „The Hill“, wie die letzten steilen 50 Kilometer genannt werden, sind berühmt berüchtigt. Im Ort erzählt man sich Geschichten von Touristen die diesen Weg, einmal unten angekommen nicht noch einmal fahren wollten, ihre Autos stehen liessen und mit dem Flugzeug oder Boot abreisten. Anders nämlich ist Bella Coola, das am Ende eines langen Fjordes liegt, nicht zu erreichen. Der „Freedom Highway“, wie ihn die Erbauer tauften, wurde in den 1950ger Jahren von Einheimischen gebaut, nachdem die Provinzregierung einen Ausbau abgelehnt hatte. Zu schwierig, zu teuer, zu unwirtschaftlich ließen die Einwohner Bella Coolas nicht gelten, krempelten die Ärmel hoch und bauten eigenhändig den einzigen Landweg, der aus ihrem Tal herausführen sollte. Auch heute wird immer wieder diskutiert, dass man „the Hill“ doch endlich teeren sollte, was die Einheimischen strikt ablehnen. Im Winter sei eine Schotterstraße viel leichter zu unterhalten als eine Teerstraße und ein Teerbelag würde nur dazu verführen, zu schnell zu fahren. Denn trotz des Gefälles, trotz der engen Kurven und der rechts und links steil abfallenden Hänge, kommt es hier zu erstaunlich wenig Unfällen. Je sagenumwobener eine Straße, desto wahrscheinlicher ist es, dass Timm sie fahren muss. Obwohl ich nach all den Geschichten um diesen berühmten „Hügel“ anfangs doch ein wenig nervös bin, kann ich mich schnell entspannen und die atemberaubende Landschaft genießen.

Je tiefer wir kommen, desto dichter und undurchdringlicher erscheint der Wald um uns und als wir den Fuß des „Hills“ erreichen, hat sich nicht nur die Landschaft sondern auch unser Zeitgefühl verändert. Wir fühlten uns um Millionen Jahre zurückversetzt. Prähistorisch anmutend, türmen sich mannshohe Farne, bemooste Baumriesen, von deren Zweigen lamettagleich Flechten hängen, links und rechts von der Straße. Es rauscht, tropft, wabert, gurgelt, zwitschert. Handtellergroße Schmetterlinge tanzten mit den wenigen Sonnenstrahlen, die es schaffen durch das Blätterdach bis zu uns zu gelangen. Bella Coola liegt mitten im Herzen des „Great Bear Rainforrest“. Der „Regenwald des großen Bären“ zieht sich entlang der Westküste Kanadas bis hinauf nach Alaska, gehört zu den wenigen übrig gebliebenen Regenwäldern dieser Erde. Seinen Namen verdankt er dem nur hier vorkommenden weißen Kermode- oder Geisterbär, ein heiliges Symboltier einiger indigener Völker. Noch vor 2 Jahren stand der Wald von Abholzung bedroht, kurz vor der Zerstörung. Umweltschützer aus vielen Ländern der Erde, allen voran Greenpeace hatten den indigenen Völkern dieser Gegend bei dem Kampf um diesen Ort zur Seite gestanden und 2016 wurde endlich, nach 10 jähriger Verhandlung, ein Abkommen unterzeichnet, das 85% dieses Waldes aus der wirtschaftlichen Nutzung herausnahm. Der Frieden allerdings scheint nur von kurzer Dauer, da heute die Northern Gateway Pipelines planen, einen regelmäßigen Öltankerverkehr durch die Fjordpassagen zu etablieren. Würden sie hierfür die Erlaubnis bekommen, wäre die Zukunft dieses einzigartigen Lebensraums erneut bedroht.

Noch während wir, wie Alice im Wunderland mit offenen Mündern staunend nicht wissen wohin wir zuerst blicken sollen, nehme ich am Flussufer rechts der Straße eine flüchtige Bewegung war. Obwohl es sich um nur Millisekunden handelt, weiss ich sofort was das ist. „Halt an, fahr zurück, da war ein Grizzley!“ Wir sind allein auf der Straße, Timm macht daher eine Vollbremsung, fährt rückwärts in einen kleinen Weg, an dessen Ende sich ein Parkplatz befindet. Und da steht er, mitten auf einer kleinen Kieselanhöhe im Flussbett, blickt zu uns herüber. Aus seinem Fell tropft das Wasser, er schüttelt sich, trottet wieder Richtung Fluss, lässt sich mit einer Eleganz die ich ihm nicht zugetraut hätte, hineingleiten. In Sekunden sind wir aus dem Auto gesprungen, laufen mit Kamera und Fernglas ausgerüstet über den Parkplatz. Neben einem Infoschild nimmt uns eine dunkelhaarige Frau in Empfang, sie ist Mitarbeiterin der BC Nationalparks, fragt ob wir schon einmal hier waren. Völlig überrumpelt, verneinen wir, wundern uns was uns hier erwarten wird. Nach einem kurzen Sicherheitsbriefing kündigt sie uns bei einem Kollegen an: „I have a group of six coming up, path clear this side“. Und dann dürfen wir gehen. Nach ein paar Metern nimmt uns erneut ein Parkmitarbeiter in Empfang, führt uns auf eine von Elektrodraht umzäunte Fläche, bittet uns, möglichst leise zu sein, keinen Blitz zu benutzen und hektische Bewegungen zu vermeiden. Ich brauche ein paar Momente, mich an den bestialischen Gestank zu gewöhnen, es riecht nach verrottetem Fisch und bevor ich wirklich verstehen kann, was diesen Geruch verursacht, erliege ich dem Feuerwerk meiner Synapsen. Vor uns am Flussufer tummeln sich 3 Grizzleybären, Möwen umkreisen sie kreischend, ein Weißkopfseeadler streift uns fast im Flug. Ich bin völlig überwältigt, kann kaum atmen.

Es ist Anfang Oktober, wir befinden uns noch immer in der Zeit der Lachswanderung. Jedes Jahr von Ende August bis Mitte Oktober begeben sich die die Pazifiklachse nachdem sie den Großteil ihres Erwachsenenlebens im Meer verbracht haben, auf ihre letzte große Reise. Sie wandern flussaufwärts zurück zu ihren Geburtsgewässern, um dort abzulaichen. Die, die es schaffen, sterben nach der Eiablage, bzw. -befruchtung, dienen den sich entwickelnden Embryonen  so als Dünger. Für das Ökosystem Regenwald sind sie ein essentieller Närstofflieferant, für die Bären, die sich auf die Winterruhe vorbereiten, ein Festessen. Zu Hunderten finden sie sich an den Flussläufen ein, fressen sich ihre überlebenswichtige Fettschicht an. Nachdem der erste Hunger gestillt ist, knabbern sie wählerisch die besten Stücke von den völlig erschöpften Lachsen, lassen den Rest am Ufer liegen oder auf dem Wasser treiben, wo sich die Möwen kreischend ihren Anteil sichern. Die Kinder sind ausnahmsweise sprachlos, Timm und ich können unser Glück kaum fassen. Als wir nach fast zwei Stunden weiterfahren, kommen uns noch ein paar Bären auf der Straße entgegen, völlig entspannt, kein bisschen scheu treten sie ein wenig zur Seite, um uns Platz zu machen.

Gerne wäre ich länger hier geblieben, leider aber hatten wir für morgen unsere Fähre gebucht, die uns nach Vancouver Island bringen sollte. Die Inside Passage ist eine der schönsten Wasserstraßen der Welt, führt durch ein Fjordsystem von Alaska nach Vancouver Island. Einen kleinen Teil davon hatten wir morgen vor zu fahren, hatten ihn, da das Wetter schön zu werden versprach, extra vorverlegt. Als ich den Fähranleger sehe, bereue ich fast, mich jemals darauf eingelassen zu haben.

Lange vor Sonnenaufgang klingelt am nächsten Tag der Wecker. Eine Stunde vor Abfahrt sollen wir am Anleger sein. Sicherheitshalber haben wir direkt dort übernachtet. Die Kinder sind aufgeregt, freuen sich wieder auf einem Schiff zu sein. Paula hat seit unserer Atlantiküberquerung jedes Mal wenn sie einen Containerfrachter sieht, „Heimweh“, vermisst das Brummen der Motoren, den grün lackierten Boden am Außendeck, den Geruch nach Motoröl und salzigem Meer.

Als die aufgehende Sonne zarte Muster in den Himmel zeichnet, vor dem sich schattenhaft die Umrisse der Berge abzeichnen, zwischen denen geisterhaft der Nebel wabert, muss ich mir fast ein paar Tränchen verdrücken. Selten hat mich eine Landschaft so tief bewegt, so ergriffen. Um uns herum sprühen Wale ihre Fontänen, alles ist in sphärisches Blau getaucht. Hätte Frieden eine bildliche Entsprechung, dann wäre es dieses.

Kanada

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