Calgary
Ein schriller Ton zerreißt mir das Trommelfell. „Scheiße, mach schnell die Tür auf!“ Während ich japsend für Frischluft sorge, stellt Timm den Rauchmelder aus. Die Kinder zetern und fluchen, Timm kratzt sich am Hinterkopf. „Ich glaub das Holz ist zu feucht, ich hole anderes.“
Wir stehen auf einem Parkplatz in Calgary, vor uns kratzt imposant die Skyline am grauen Himmel. Die Kälte sitzt in jeder Ritze, wir schaffen es nicht mehr mit geöffnetem Backofen gegen die 2 Grad Außentemperatur anzuheizen. Der Holzofen in Roger war als Notofen geplant, dass wir ihn schon Ende September brauchen würden, hätten wir nicht gedacht. Zum ersten Mal hat Timm nun das lange Schornsteinrohr aufs Dach gesteckt und füttert den Ofen. Ein bisschen aufgeregt sind wir, Premierenfieber.
Als eine Viertelstunde später der Rauch abgezogen, alle Türen und Fenster geschlossen und neues trockenes Holz nachgelegt ist, wird es erstaunlich schnell warm. Sehr warm. Es kracht und zischt, ungewohnte Gerüche wabern aus dem Bad. Das Ofenrohr, führt durch den Badezimmerschrank, wird ziemlich warm, erhitzt das Holz, das, so Timm, erstmal ausdünsten muss. Neue Öfen würden immer erstmal stinken und die Farbe im Schrank sei ja auch noch ziemlich frisch…

Als Timm draußen „Nachschubholz“ hackt, hält neben ihm ein Geländewagen. Rotblaues Licht blinkt auf dem Dach. „Hello Sir, that’s quite a rig you’ve got.“ Diesen Satz haben wir genau so schon gefühlte 1000 Mal gehört. „Rig“ bedeutet „Ausrüstung“, auch „Sattelschlepper“, Timm und ich übersetzen es mit „Geschoss“. Etwas nervös beginnt Timm ein Gespräch mit den beiden Polizisten, die auf einer Patrouillefahrt auf uns gestoßen sind. Wenn wir bisher immer Glück hatten, werden wir jetzt Ärger bekommen. Campen auf dem Parkplatz, dazu ein rauchender Schornstein schreit geradezu nach Platzverweis.
Wir hätten ein wenig Pech mit dem Wetter, so die beiden Gesetzeshüter, gestern habe die Sonne geschienen und es sei viel viel wärmer gewesen. Zum Glück aber hätten wir ja eine Heizmöglichkeit. Ob sie vielleicht auch ein Foto machen dürften, so einen Camper hätten sie noch nie gesehen. Klar dürften sie das, eine Steinlawine rutscht Timm vom Herzen. Mit dem Hinweis, dass wir nicht vergessen sollen ein Parkticket zu ziehen, verabschieden sich die beiden Herren, um ein paar Meter weiter einen Mann festzunehmen, der gerade sein Auto zu Schrott gefahren hat und keinen Führerschein besitzt. Während wir drinnen weiter geräuchert werden, unterhält sich Timm draußen mit einem Jogger, der uns einlädt ihn zu Hause zu besuchen.
Das Einzige, was wir mit Calgary verbunden haben ist, dass irgendwann in unserer Kindheit dort die olympischen Winterspiele ausgetragen wurden (das war 1988, ich war 11. Warum kann ich mich daran erinnern, habe aber noch immer Schwierigkeiten mir Timms Handynummer zu merken?). Wir hatten keine Vorstellung was uns erwarten würde, hatten keine Pläne gemacht. Umso überraschter sind wir. Calgary ist Kanadas viertgrößte Stadt, nach Vancouver die zweitgrößte im Westen. Gegründet als Zentrum der Rinderzucht und Cowboys, verdankt die Metropole ihr rasantes Wachstum vor allem dem Status als Zentrum der kanadischen Ölindustrie. Downtown liegt auf einem Hügel oberhalb des Bow River, von unserem Platz aus haben wir erste Reihe Blick. Wie auch in Ottawa und Quebec hat sich unsere Strategie, auf der anderen Seite des Flusses mit Blick auf die Stadt, zu parken bewährt.




Zweieinhalb Tage verbringen wir hier. Downtown ist nur ein 5 Minutenmarsch über die Fußgängerbrücke entfernt. Wir brauchen warme Socken, lange Unterhosen und Handschuhe, bummeln durch Shoppingmalls, durch tiefe Häuserschluchten, essen in Chinatown zu Mittag, besuchen den (völlig überteuerten) Zoo. Nach den langen Fahrtagen durch die Prärie haben wir Bewegungsdrang, müssen uns austoben. Wir probieren Poutine, ein kanadisches Nationalgericht. Angeblich ist es aus einem Küchenunfall entstanden, besteht aus Pommes, die mit brauner Bratensoße übergossen, mit Käse-und wahlweise Hähnchenstückchen bestreut sind. Es kann, wie in unserem gewählten Restaurant in Inglewood, phantastisch schmecken, birgt aber auch die Gefahr, im Status „Küchenunfall“ zu verbleiben.















Einen Nachmittag verbringen wir bei dem Jogger, der Timm eingeladen hat zu Hause. Ricardo und Rosa sind Mexikaner, haben lange in Vancouver gelebt und sind vor ein paar Jahren mit ihrem Sohn Camilo nach Calgary gezogen. Sie lieben wie wir das Reisen, haben ausgedehnte Fahrradtouren durch Europa unternommen, Camilo, so lange er klein war im Fahrradanhänger, nun fährt er selbst. Schon nach den ersten 10 Minuten, fühlt es sich an, als kennen wir uns ewig. Sie waren am vorigen Wochenende in Banff, dem Nationalpark der für die kommende Woche auf unserer Agenda steht, verraten uns die schönsten Stellen und besten Wanderungen. Der Wetterbericht allerdings verheißt nichts Gutes: Regen, Schnee und Minusgrade. Ich bin enttäuscht. Die Rocky Mountains waren für mich immer ein Fixpunkt auf dieser Reise, etwas auf das ich mich die ganze Zeit gefreut habe. Die Aussicht die Gipfel nicht sehen zu können, weil sie im Nebel versinken, raubt mir die Freude am Weiterreisen. Zumindest, bis am dritten Tag in Calgary der Himmel aufreißt, und die Sonne strahlt. Wir lassen Schule ausfallen, packen zusammen und fahren los, wollen keine Chance vertun, die Gipfel der Rockies doch noch im Sonnenschein zu sehen.