Digby Neck
Nova Scotia, Canada
Der Nieselregen, der noch in Lunenburg herrschte, ist zu einer Sintflut ausgewachsen. Es ist anstrengend zu fahren, wird dunkel, und wir beschließen, auf einem Parkplatz am Highway zu übernachten. Der Regen prasselt an die Fensterscheiben, die den Wassermassen nicht gewachsen zu sein scheinen. An jedem Fenster hat sich ein kleines Rinnsal gebildet, in unserem Bett schläft eine Pfütze. Trotz des strömenden Regens öffnet Timm die Fenster, untersucht die Rahmen. Keiner der Fensterrahmen hat einen Ablauf. Das Wasser läuft die Scheiben herunter, sammelt sich im Rahmen und läuft dann nach innen ab. Mit dem Akkubohrer bohrt Timm die fehlenden Löcher, dann endlich bleibt der Regen draußen und wir können uns entspannen.
Am nächsten Tag scheint wieder die Sonne, wir lassen den warmen Wind durchs Auto pusten und die Feuchtigkeit aus ihm vertreiben. Der Parkplatz liegt direkt an einer Kanueinsatzstelle, bietet einen phantastischen Blick auf den Fluss. Fische springen zwischen Seerosen aus dem Wasser, die frisch gewaschene Luft riecht phantastisch nach Moos und Blättern. Wir machen bis zum Mittagessen Schule, fahren dann weiter nach Digby Neck.
„Mama!“ Max schreit so laut er kann, fuchtelt wild mit den Armen. Gerade eben hat er noch friedlich mit Carl zwischen den Klippen gespielt, sie haben nach Krebsen gesucht, die in den kleinen Pools zwischen den Steinen auf die nächste Flut warten. Paula kann ich nicht sehen, auch sie ist mit ihrer Krebsangel losgezogen. Mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um gleich mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Nach kurzem Sprint sehe ich alle drei Kinder nebeneinander stehen, sie blicken auf offene Meer hinaus. Eine meterhohe Fontäne spritzt in den Himmel, daneben eine zweite und dann taucht der Kopf eines riesigen Wales aus dem Wasser auf, wächst zu einer Säule, lässt sich rücklings zurück in Meer plumpsen. Dicht neben ihm ragen die Seitenflossen eines zweiten Wales aus dem Wasser, die Fontäne eines dritten. Sie sind ziemlich weit vom Ufer entfernt und doch so nah, dass man ihr Spielen und Toben auch ohne Fernglas beobachten kann.
Die Kinder stehen regungslos, nur um uns herum wird es plötzlich hektisch. Vom Hafengeländes des kleinen rumpeligen Hafens kommen andere Walbeobachter zu der Anhöhe gelaufen, auf der wir mit Roger geparkt haben. Es ist später Nachmittag-die Tageszeit in der die Wale besonders agil und spielerisch sind. Ich hatte schon oft Wale in Südafrika gesehen, und doch ist es jedesmal wieder besonders. Timm und Lotta sitzen mit den Ferngläsern auf Rogers Dachbank- Humphbacks, lautet ihr Urteil.
Wenig später hat Lotta ihre Drohne in der Luft. Se möchte aufs offene Meer hinausfliegen, um die Wale von oben zu filmen. Leider sind die abgetaucht, bevor sie sie erreichen kann. Stattdessen filmt sie einen riesigen weißen rundlichen Fisch, der regungslos auf der Seite zu treiben scheint. Ein Rochen vermutet jemand neben uns. Erst als sie sich ihm auf 3m nähert, erkennen wir ihn wieder. Im Museum in Kapstadt haben wir viele Male ein Modell dieses Fisches gesehen: Es ist ein Mondfisch, der, um sich in der Sonne aufzuwärmen aufgetaucht ist, sich genüsslich treiben lässt.
Wir hatten eigentlich nur kurz aussteigen wollen, waren, weil wir keinen Parkplatz finden konnten, ein Stück den Berg Richtung Klippen heraufgefahren, stehen nun in der Nähe eines kleinen Holzhauses. Der Blick von hier oben ist phantastisch. Timm fährt den Cube, so nennen wir den Auszug mit unserer Sitzecke, aus, kocht Kaffee. Die Kinder spielen zwischen den Felsen, die Jungs haben alte Autoreifen, Schrott und eine zerfetzte Matratze gefunden, bauen sich ein Haus aus dem was sie finden können. Als wenig später der Besitzer des Hauses nach Hause kommt, freut er sich, dass die Jungs mit der alten Matratze spielen, die er vor Jahren zwischen den Klippen entsorgt hat. Auf die Frage ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn wir eine Nacht blieben, entgegnet er uns ein freudiges „Überhaupt nicht!“ Man brauche ein wenig Geduld, dann kämen die Wale in die Bucht. Viele Leute kommen an diese Stelle, bleiben eine Stunde und fahren dann wieder. Wenn wir blieben, würden wir sie heute Nacht hören können. Und so bleiben wir, schlafen bei offenem Fenster, hören das Schnauben der Wale und die mit steigenden Promille undeutlicher werdenden Rufe unseres Gastgebers: „ Any wales yet?“, „Hear them?“ und „Good night!“