Antigua, Teil 1
Antigua haut uns um. Trotz Regen, trotz der Rückenschmerzen, die Timm auf der Fahrt hierher immer wieder mit der höchsten erlaubten Dosis Schmerztabletten, Wärmepflaster und Voltarengel versucht, in den Griff zu bekommen. Mehrere Male mussten wir anhalten, er sich kurz hinlegen. Spätestens jetzt verfluche ich die Tatsache, dass ich das Fahren bisher immer ihm überlassen habe. Timm ist kein guter Beifahrer, wenn er könnte, würde er einer rote Fahne schwenkend vorweglaufen und alle vor mir warnen. Auf kanadischen Loggerstraßen könnte ich fahren, auf den mit Schlaglöchern übersäten Pisten, die sich in engen Kurven das Hochland hoch und wieder runter schlängeln allerdings überfordert das mein Nervenkostüm. Ich bin nicht vertraut mit der Motorbremse, meine Beine sind zu kurz, um vernünftig kuppeln zu können und überhaupt verwechsele ich ständig rechts und links, ziehe instinktiv den Kopf ein, wenn Stromleitungen oder Äste mir zu niedrig erscheinen, werde deshalb ständig von allen verarscht. Ich will nicht fahren, reisen im Übrigen auch nicht mehr- jedenfalls bis wir die ersten Straßenzüge Antiguas erblicken.
Antigua, eigentlich die Kurzform von „La Antigua Guatemala“ war 1543 bis 1773 die Hauptstadt der spanischen Kolonien in Zentralamerika. Mitte des 18 Jahrhunderts lebten hier mehr als 50.000 Menschen, es gab Krankenhäuser, Schulen, eine Druckerei, eine Universität, mehr als 50 Kirchen und Kapellen. Im Laufe der Zeit legten schwere Erdbeben die Stadt mehrmals in Schutt und Asche und man verlegte die Hauptstadt in die Gegend des heutigen Guatemala Citys.

Ganz aufgeben allerdings wollte niemand das geschichtsträchtige Antigua, immer wieder wurde es, wenn auch mühsam, wieder aufgebaut. Vom letzten sehr schweren Erdbeben 1976 erholte sich die Stadt nur schwer, wird aber, seit sie 1979 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurde, liebevoll restauriert. Heute leben hier 35.000 Menschen, die Hauptwirtschaftszweige sind Kaffeeanbau und Tourismus.

Antigua ist eine der touristischen Hauptattraktionen Guatemalas. Zu recht! Keine einzige Bausünde stört das koloniale Stadtbild, Neonreklamen und Schilder, selbst Straßenschilder sind streng verboten. Die Vorfahrtsregeln entnimmt man den, an die pastellfarbenen Fassaden angebrachten, handbemalten Fliesen.

Halb verfallene Kirchen und Stadtmauern konservieren historischen Charme, auf den Plätzen, dem Markt und in den Parks pulsiert das Leben. Farbenfroh gekleidete Mayafrauen verkaufen Kunsthandtwerk und Obst, die bunten Chickenbusse knattern schwarz rauchend durch die engen Gassen. Es riecht wie auf der Landebahn eines Flughafens, dann wieder nach köstlichem Gebäck und gebratenem Fleisch.
Guatemalteken sind unglaublich höflich und zuvorkommend. Die Händler sind niemals aufdringlich, akzeptieren ein „Nein Danke“ sofort, bedrängen uns nie, sind trotzdem offen und interessiert. Wir werden so viel angelächelt, wir lächeln so viel zurück, dass meine Zähne am Abend von all der frischen Luft schmerzen. Die touristische Infrastruktur ist erstaunlich: Hinter schlichten Fassaden verstecken sich Gourmetrestaurants, Boutiquehotels, Edeljuweliere, vegane Cafes, Bäckereien und der schönste McDonalds der Welt.
Da aber weder große Schaufenster, noch übergroße Schilder hierauf aufmerksam machen, wird man von deren Existenz nicht erschlagen, kann sie bequem ausblenden.
Mit letzter Kraft rollt Timm vor die Haustür unseres Air BnB. Leider nur fast. Das Tor ist zu niedrig und wir können mit Roger nicht innerhalb des Komplexes parken. Wir parken die erste Nacht auf der Straße, vor dem Laden eines netten Herren, der verspricht aufzupassen. Wir räumen den Truck aus, beziehen unsere Unterkunft. Wir brauchen dringend eine Reisepause, Timm ein paar Tage fahrfrei, ein richtiges Bett, in das er nicht mühsam klettern muss. Ich freue mich auf eine Dusche, darauf unsere Wäsche zu waschen und wieder ein bisschen Platz zu haben, uns ein wenig aus dem Weg gehen zu können. Die Kinder freuen sich darauf, ihr Lego nicht nach jedem Spielen wegräumen zu müssen, darauf, in die Spanischschule zu gehen.

Das Haus ist phantastisch, viel schöner als auf den Fotos im Internet. Lotta und Paula heben ein eigenes Zimmer, Timm und ich ebenfalls, die Jungen teilen sich ein riesiges. Wir haben 4 Bäder, jeder kann kacken wann und so lange er will, ohne dass der Rest der Familie sich über den Gestank beschwert. Das Herz des Hauses ist ein kleiner Innenhof mit Springbrunnen, die Küche hat die zehnfache Größe der Küche von Roger. Von der Dachterrasse sehen wir, wie der Fuego Vulcan dunkelgraue Rauchsäulen in den Himmel spuckt. Es ist angenehm kühl und das erste Mal seit Wochen haben wir einen erholsamen Nachtschlaf.
Den 29. Mai feiern die USA landesweit als „Leg dein Kopfkissen auf den Kühlschrank Tag“. Dieser alte Brauch soll das Glück heraufbeschwören. Haben wir leider nicht gewußt und so hat uns dieser Tag kein Glück gebracht! Früh am Morgen werden wir aus dem Halbschlaf gerissen, weil jemand ausdauernd an die Holztür des Hauses bollert. Es ist der Sicherheitsbeamte des Wohnkomplexes, in dem sich unser gemietetes Haus befindet. Ein Nachbar hätte ihn verständigt, es gebe ein Problem mit unserem Truck. In Sekunden sind wir angezogen und auf der Straße. Roger steht keine 3 Minuten von uns entfernt. Von Weitem schon sehe ich den Ladenbesitzer, er steht wie ein begossener Pudel neben dem Truck. Noch bevor ich sehen kann, was passiert ist, redet er auf mich ein, es tue ihm so leid, er habe nichts machen können, es sei heute Nacht um 2.00 passiert und als er auf die Straße kam, konnte er niemanden mehr sehen. Mein Herz rutscht bodenwärts und wird, als ich sehe, was passiert ist, nur von ein paar letzten Fasern vorm Aufklatschen abgehalten. Der Bürgersteig ist übersät von Scherben, das Beifahrerfenster ist eingeschlagen, das kleinere hintere Fenster am Sitz der Kinder ebenfalls. Weil Timms Bein zu sehr schmerzt, klettere ich nach oben, um einen Blick in die Fahrerkabine zu werfen und mich trifft fast der Schlag: Sie ist komplett ausgeräumt! Außer dem Lenkrad ist nichts mehr da. Die Diebe haben das gesamte Armaturenbrett inklusive Radio, Navi, Rückfahrkamerabildschirm ausgebaut, aus einem großen Loch hängen die sauber abgeschnittenen Kabel. Das Handschuhfach ist fast leer, Taschenmesser, Ferngläser, Ladekabel, USB Sticks, alles weg. Ich bin sprachlos, kann nicht antworten, als Timm fragt, was alles fehlt. Trotz der Hektik hatte ich gestern zum Glück nicht vergessen, die Zwischentür zum Wohnkoffer abzuschließen, schließe trotzdem mit zitternden Händen und flauem Magen die Tür auf, um zu gucken, ob es hinten genauso aussieht wie hier vorne. Wir haben Glück, mehr Glück, als uns auf den ersten Blick bewusst ist. Im Handschuhfach lag, von den Dieben nicht erkannt, der Ersatzschlüssel für die Zwischentür!
Am Himmel ziehen graue Wolken auf, die Wetterapp sagt, wir hätten noch zwei Stunden Zeit, bis es für zwei Tage regnet. Das ist nicht viel Zeit, um einen Plan zu machen. Navigieren können wir im Notfall mit unseren Mobiltelefonen, Musik hören auch, auf die Rückfahrkamera können wir verzichten, wenn jemand aussteigt und beim Einweisen hilft. Die Seitenscheibe allerdings muss so schnell wie möglich ersetzt werden, wir brauchen einen bewachten Parkplatz. Während ich mich an den Rechner setze und alle möglichen Autoglaser abtelefoniere, fährt Timm Schrottplätze ab. Frust hat zu wenige Buchstaben für das, was ich fühle, Timms Bein wird stündlich schlimmer, inzwischen schüttet es wie aus Eimern. Auf einen verzweifelten Instagram Aufruf melden sich Follower aus Mexiko und Guatemala, bieten ihre Hilfe bei der Suche an, wollen sogar den Transport organisieren, sollten sie eine passende Scheibe finden. Wir finden keine, weder in Guatemala, noch in Mexiko oder Deutschland. Timm schneidet eine Schablone aus dünnem Sperrholz zurecht, lässt beim Fensterglaser eine Scheibe anfertigen, die er selbst mit Carls Hilfe einbaut. Am späten Nachmittag steht Roger mit neuen Scheiben, mit neu gezimmertem Armaturenbrett und neuen Scheiben auf einem bewachten Parkplatz. Timm allerdings steht nicht mehr, kann nicht mehr stehen, weil ihm am Ende des Tages das rechte Bein den Dienst versagt. Morgen, das verspricht er mir, wird er sich endlich untersuchen lassen.

welch eine Geschichte, spannend, wie es wohl weiter geht euer großes Abenteuer, ihr seid einfach super, wie ihr alles wegsteckt und organisiert. Unbedingt ein Buch darüber schreiben, später, die
Kapitel dafür sind ja bereits fertig……reise mit, leide mit euch mit, ihr seid sehr mutig.
Vielen lieben Dank!