Santa Marianita

Man sagt, Reisen erweitert den Horizont, befreit von Vorurteilen, bringt das sorgfältige Ablagesystem im Kopf einmal so richtig durcheinander. Alles, was fein säuberlich in Boxen geordnet war, wird ausgekippt, aus- und umsortiert. Ich würde so gerne ohne mentales Ablagesystem auskommen, unheimlich gern Orten und Menschen mit frischem Blick begegnen, sie in ihrer Einzigartigkeit erkennen können. Je länger wir aber unterwegs sind, desto öfter setzt sich meine innere Marie Kondo durch. Organisiert wieder, beschriftet, sortiert, vergleicht, typisiert, bewertet. Und jedes Mal wenn ein Ort sein Label bekommen hat, lehnt sie sich selbstzufrieden zurück, freut sich bei einer Tasse Grüntee übers ausgeklüngelte Ablagesystem.  

Der kleine Fischerort Santa Marianita, etwas südlich der Hafenstadt Manta, erhält die Attribute „sandig“, „öde“, „trist“, „windig“. Anders als der nördliche, tropisch geprägte  Teil der Pazifikküste, an dem Dschungel und Mangroven bis an den Strand wachsen, ist der südliche Teil der Küste von Halbwüste dominiert. Grund für diese Teilung ist der Einfluss des Humboldstroms, der von Mai bis Oktober für kühlere Temperaturen, Trockenheit und Wind sorgt. Dem Wind verdankt der kleine Ort den Ruf, der beste Kitesurfstrand Ecuadors zu sein. Drei Surfschulen säumen den Strand des ansonsten recht verschlafenen Fischerdorfes. Darüber hinaus ist die touristische Infrastruktur bescheiden: ein paar kleine Strandrestaurants, ein sehr kleiner Supermarkt für das Nötigste, einen Geldautomaten sucht man vergebens. 

Es ist das erste Wochenende, an dem der Strand nicht gesperrt ist. Die weggeräumten Barrikaden stapeln sich noch an den Einfahrten der Parkplätze. Die meisten der Restaurants sind geschlossen, auch die Surfschulen wirken verlassen. Die wenigen Spaziergänger tragen selbst dann Mundschutz, wenn sie völlig allein unterwegs sind. 40 Coronafälle zählt die 3000-Einwohner-Gemeinde bis jetzt (August 2020), beklagt drei Tote, erzählt uns die Verkäuferin im Supermarkt, den niemand betreten darf. Stattdessen bestellen wir die benötigten Artikel durch eine Gittertür, die Verkäuferin verschwindet in der Dunkelheit des Ladens, kommt mit der Auswahl zurück, versteht uns auch, wenn wir statt „Haarseife“ (jabon de cabello) „Pferdesuppe“ (sopa de caballo) bestellen. Sie muss häufig hin- und herlaufen für uns, statt aber genervt davon zu sein, legt sie zum sorgsam mit Alkohol desinfizierten Wechselgeld ein paar Bonbons: „Que se vayan bien, amigos!“ (Alles Gute, meine Freunde). 

Wir campen auf dem Parkplatz des Hostels „Punta la Barca“, welches eigentlich noch nicht wieder offiziell geöffnet hat. Stattdessen nutzen Juan und seine belgische Frau Inge die Lockdownzeit zum Umbau. Obwohl sie mitten im Chaos stecken, sind wir herzlich willkommen. Die Idee von Punta la Barca, so erzählt uns Inge abends beim Lagerfeuer, ist es, Reisende und Locals zusammenzubringen. Am liebsten um den großen Esstisch. In der Vergangenheit haben sie Projekte organisiert, bei denen vor allem Reisende die länger blieben, lokalen Kindern das Schwimmen beibrachten oder ihnen Englisch Unterricht gaben. Als Inge sich vor sieben Jahren in Ecuador und Juan verliebte, war es vor allem die Art, wie man in Ecuador Gemeinschaft lebt, die sie überzeugte. Gemeinschaft, so sagt sie, ist in Ecuador „the natural state of being“, der natürliche Grundzustand. 2016 wurde das Land von einem der schwersten Erdbeben seiner Geschichte erschüttert. Besonders die Pazifikküste war stark betroffen: 400 Menschen verloren bei dem 7,8 Magnituden Beben ihr Leben, weite Teile der Küstengemeinden wurden zerstört, selbst im 170km entfernten Quito brach Panik aus und Gebäude stürzten ein. Der damalige Präsident erklärte den Ausnahmezustand und auch heute, 4 Jahre nach dem Beben, kann man vielerorts noch die Spuren erkennen. 

In Santa Marianita richtete das Beben keinen großen Schaden an, die Strom- und Lebensmittelversorgung allerdings brach für vier Wochen zusammen. „Die Zeit stand damals still“, erzählt Inge, stochert mit einem Stock in der Glut. Und so schrecklich die Umstände, war es eine der prägendsten Phasen ihres Lebens. Statt panisch zu werden, rückten die Dorfbewohner zusammen, teilten, was sie hatten. Einige hatten Kühlschränke, die sie mit Generatoren betrieben, kühlten dort den Fisch, den die Fischer brachten. Andere hatten Hühner, Eier, aus dem Campo kamen Gemüse und Schweinefleisch. Es wurde getauscht und geteilt, gemeinsam half man sich durch die schweren Wochen. Und so ist es hier immer. Vor ein paar Wochen strandete ein Wal und innerhalb von wenigen Minuten war das ganze Dorf versammelt, um ihn wieder ins Wasser zu verfrachten, was leider nicht gelang. Jedes Mal, wenn sie nach Belgien kommt, sei sie wieder erschüttert, wie isoliert viele Menschen dort leben. Ob das der Grund sei, warum Ecuadorianer sich so schnell mit den Umständen der Pandemie arrangiert haben, möchte ich wissen. Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Erdbeben, extreme Regenfälle und politische Herausforderungen wie soziale Ungleichheit und korrupte Präsidenten gehören in Ecuador zum Leben dazu. Man ist es gewohnt, auf extreme Situationen reagieren zu müssen statt in Schockstarre zu verfallen oder sich in die Unbeweglichkeit zu diskutieren. „Co-Living“-miteinander leben, einander helfen-, sagt Inge, sind für sie der Grundpfeiler der ecuadorianischen Gesellschaft, ist auch die Herzidee von Punta la Barca. Besonders für digitale Nomaden, Reisende die unterwegs digital ihr Geld verdienen, ist Punta la Barca ein Anlaufort. Für sie haben Inge und Juan auf dem Steilhang mit 360Grad Blick über den Ozean eine Bürocabaña mit schnellem Internet errichtet, in der keine Kinder erlaubt sind. Für Timm das Paradies. Die breiten Fensterfronten der Bürocabaña schützen vor Wind und Staub, erlauben atemberaubende Blicke auf den Pazifik.

Von Juni bis Ende September ist Buckelwalsaison in Ecuador. Zwei Mal im Jahr legen Buckelwale große Strecken zurück, ziehen von den Polarregionen in die warmen Gewässer rund um den Äquator. Hier, in den Winterquartieren fressen sich die bis zu 15m langen und 30 Tonnen schweren Giganten eine dicke Fettschicht an, von der sie dann bei ihrer Rückkehr in die kühlen arktischen Gewässer im Sommer zehren. Der Äquator, davon gehen Forscher aus, stellt eine Grenze zwischen nördlichen und südlichen Populationen, sowohl im Atlantik als auch im Pazifik dar. Während die südlichen Tiere im Sommer in das Südpolarmeer ziehen, verbringen die nördlich lebenden Tiere den Sommer in den Gewässern des Nordpolarmeeres. Der Nahrungsreichtum der warmen Äquatorgewässer bieten ideale Voraussetzungen für die Paarung und die Geburt der Walkälber. Die Tragzeit der Weibchen beträgt etwa zwölf Monate und die Jungtiere kommen entsprechend wieder in den Fortpflanzungsgewässern zur Welt. Die Jungen sind bei der Geburt etwa 4 Meter groß und bleiben für mindestens ein Jahr bei der Mutter. Gesäugt werden sie 6 bis 10 Monate, erreichen in dieser Zeit eine Größe bis zu 9m. Bis zu 1400kg Krill und kleine Fische frisst ein ausgewachsener Buckelwal pro Tag, schwimmt hierzu mit geöffnetem Maul in Fisch- und Krillschwärme ein und taucht danach meist mit gefülltem Maul ab. Beim Abtauchen krümmt er den Rücken zu einem Buckel, was ihm seinen deutschen Namen einbrachte, hebt dabei die Schwanzflosse aus dem Wasser. 

Von unserem Stellplatz oberhalb der Steilküste und von der Bürocabaña aus sehen wir die Fontänen der Buckelwale, beobachten ihre akrobatische Sprünge, wir unternehmen stundenlange Spaziergänge am menschenleeren Strand, tausende Taschenkrebse flüchten vor uns, Pelikane stürzen sich aus der Höhe senkrecht in die Fluten, jeden Abend malt die Sonne die schönsten Muster in den Abendhimmel. Auf einem unserer Spaziergänge treffen wir Annie, eine Schriftstellerin aus Amerika. Sie hat sich für einige Monate ein Apartment am Strand gemietet, um in Ruhe schreiben zu können. Es sei ein guter, ein inspirierender Ort und sie sei dankbar, die Pandemie hier verbringen zu können. Dass wir den Kindern die Welt zeigen, sagt sie, sei eines der größten Geschenke das wir ihnen machen können. Die Zukunft wird genau solche Menschen brauchen, Menschen, die sich als Weltbürger verstehen, die bereit sind, Gemeinschaft auch außerhalb ihrer engsten Umgebung zu leben, die offen sind, neue Wege zu denken. 

Als ich ein wenig später, die Füße im Sand die Sonne im Meer verschwinden sehe, wandern von Inge und Annie inspirierte Gedanken unruhig durch meinen Kopf. Auf der Suche nach der passenden Box mit dem passenden Label stolpern sie, stoßen gegen sorgsam organisierten Kisten, der gesamte Stapel kommt ins Wanken und kracht zu Boden. „Sandig“, „öde“, „trist“, „windig“, alle Attribute zu Santa Marianita flattern durcheinader, vermischen sich mit „inspirierend“, „friedlich“, „endlos“, „freundlich“, „warm“. Meine innere Marie Kondo schlägt die Hände über den Kopf zusammen, pfeffert ihre Teetasse gegen die Wand und reicht unbefristeten Urlaub ein. 

Ecuador

4 Comments Hinterlasse einen Kommentar

    • Lieber Marcus, Vielen Dank! Inzwischen sind wir wieder in den Bergen-und weisst Du warum? weil wir uns nach Kühle, Regen und verschneiten Gipfeln gesehnt haben. Haltet durch, auch diese zugegebenermassen Kackzeit geht vorbei, irgendwann…Liebe Grüße

  1. Zustimmung, ein wundervoll und zugleich realistischer Einblick, mir gefällt deine Gedankenwelt sehr, nachdenklich und zugleich gibt du ein bezauberndes Bild der neuen Eindrücke. und Empfindungen, ohne nur alles schön zu reden.

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