Vom Amazonas über die Sierra
(Ende Juli 2020) Es gibt ein paar Fähigkeiten, auf die ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende erfolglos hinarbeiten werde: müheloses Frühaufstehen zum Beispiel. So gern wäre ich ein Mensch, der in der Morgendämmerung aus dem Bett springt, sich in freudiger Erwartung auf den neuen Tag gen Himmel streckt, bereit, das Beste aus diesem zu machen. Stattdessen fühlt sich Aufwachen für mich an, als müsste ich mich aus einem tiefen glitschigen Brunnenschacht an die Erdoberfläche kämpfen. Alles in mir sträubt sich, mich dem Tag zu stellen. Während Timm tapfer jeden Morgen um 4.30 Uhr aufsteht, um die Zeitverschiebung zu überbrücken und seine Arbeit zu schaffen, fühle ich mich noch immer matschig. In regelmäßig wiederkehrenden Abständen wird das eine oder andere Familienmitglied von Magen-Darm besucht, wir sind antriebslos, sehnen uns nach Ruhe und zugleich nach dem Abenteuergeist, der noch vor ein paar Monaten unsere zweite Natur war. Nachdem wir erfahren hatten, dass auch über den Rio Napo kein Weg für uns nach Peru führt, waren wir wieder zurück nach Baños gefahren, hatten uns Zeit gelassen, immer wieder an besonders schönen Stellen angehalten, die Kinder haben im Fluss gebadet, im Sand gespielt, wir hatten alle Zeit der Welt. Unbegrenzt Zeit zu haben ist eigentlich der Traum aller Reisenden. Uns aber entzieht die Tatsache, dass wir voraussichtlich noch sehr lange in Ecuador werden reisen können, weil es nicht absehbar ist, dass Überlandgrenzen in naher Zukunft aufmachen, den Boden unter den Füssen, bremst uns aus. Mehr als eine Woche hatten wir nun in Baños in der engen Auffahrt der Montano Lodge gecampt. Die ganze Zeit hatte es wie aus Eimern geschüttet, der Ort war noch immer im Lockdown, an Roger wuchsen bereits Pilze, einzig eine stabile Internetverbindung und der unglaublich freundliche Gastgeber Fabrizio hatten uns über Wasser gehalten. Wir hatten die Zeit genutzt, ein paar Reparaturen an Roger durchzuführen, eine von den Kindern aus Versehen eingetretene Fensterscheibe auszutauschen, zu arbeiten und uns wieder ein bisschen auf die Schule zu fokussieren.
Am achten Tag in Baños dann bekommen wir den goldenen Arschtritt: Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, überzeugt uns, dass es Zeit ist weiterzuziehen, den Rest des Landes zu entdecken. Weil bei Watte im Kopf am besten klare Bergluft und Meeresweite helfen, wollen wir über die Sierra zum Pazifik fahren, Ecuador einmal von Ost nach West durchqueren. Die rund 600km lange Strecke liefert einen beeindruckenden Querschnitt durch alle Klima- und Vegetationszonen des Landes, wird uns vom Regenwald über das Páramo, vorbei an verschneiten Vulkangipfeln bis ins fruchtbare Küstentiefland und zurück zum Pazifik führen, den wir seit sieben Monaten, seit Panama nicht mehr gesehen haben.
In Ambato, der Hauptstadt der Provinz Tungurahua, keine Stunde von Baños entfernt machen wir Mittagspause. Mir ist nicht nach Kochen und so beschließen wir, Essen zu gehen. Während Restaurants in Deutschland bestimmten hygienischen und gesetzlichen Vorschriften unterworfen sind, kann in Ecuador jeder ein Restaurant oder einen Imbiss eröffnen, Vorschriften gelten hier keine. Vom Grill unterm Sonnenschirm bis zum Sternerestaurant ist alles vertreten. Schon lange haben wir uns abgewöhnt, die Restaurants nach ästhetischen Merkmalen zu beurteilen. Wir halten dort, wo es trubelig ist. Meist sind das Orte, die deutschen Gewerbeaufsichtsämtern Albträume bescheren würden. Ein traditioneller Mittagstisch mit Vorsuppe und Getränk kostet im Allgemeinen 2,50$ während wir für Fastfood wie McD oder KFC das Dreifache pro Person bezahlen würden. Es sind aber nicht finanzielle Erwägungen, die uns immer wieder an die Strassenstände treiben, sondern vor allem das kulturelle Erlebnis. Bevor wir Zentralamerika bereist haben, hätten mir die hygienischen Zustände in vielen lokalen Restaurants einen Ganzkörperherpes beschert, nun bin ich schon froh, wenn ich keine Nagetiere jenseits des Grills zu sehen bekomme. Auf dem Grill allerdings sind diese in der Sierra ein gewöhnlicher Anblick. Meerschweinchen mit Kartoffelbrei ist hier ein beliebtes Gericht- für Paula, die in Deutschland eine Meerschweinchenzucht betrieben hat, eine Zumutung. Wann immer möglich, setzt sie sich mit dem Rücken zum Grill, um die gehäuteten, sich langsam am Spieß um sich selbst drehenden Tierchen nicht sehen zu müssen.
Heute blickt sie stattdessen auf einen riesigen Flatscreen. Statt der üblichen Kriegsfilme, Telenovelas oder Fußballspiele kommt sie, während sie an Reis und Bohnen kaut, in den Genuss einer Live-Venenoperation. Geräusche werden zum Glück von den beiden kühlschrankgroßen Boxen zu unserer rechten und linken Seite übertönt, aus denen lateinamerikanische Rhythmen tönen, deren Liedtexte viel „Coracon“, „Dolor“ und „Amor“ enthalten. Auch die Suppen sind gehaltvoll. Die Kinder haben sie „Sachensuchersuppe“ getauft, weil ein angehender Tiermediziner in ihnen ausreichend Material für das Anatomiestudium diverser Tierarten finden würde. Die Hauptgerichte bestehen zumeist aus gebratenem oder gegrilltem Fleisch oder Fisch, Reis und frittierten Bananenküchlein (Patacones), Kartoffeln oder Yuca, oft einer kleinen Portion Salat oder Mais. Überall im Land wird an den Gemüseständen das köstlichste und frischeste Gemüse verkauft- auf dem Teller allerdings haben wir Brokkoli, Möhren oder Rote Beete noch niemals gesehen. Auch Obst wird selten frisch verzehrt, sondern püriert mit Zucker und Wasser versetzt als Saft (Jugo) oder mit Milch (Batida) getrunken. Auch wenn wir nicht immer begeistert von der ecuadorianischen Küche sind, inzwischen eine Abneigung gegen Reis und Bohnen entwickelt haben, finden wir lokales Essen eine der wichtigsten Reiseerfahrungen. Oft haben die Kinder in den letzten Jahren an ihr heimisches Pausenbrot denken müssen, konnten nicht fassen, dass sie manchmal nur halb gegessen wieder mit nach Hause gebracht haben.
Unser Ziel für die Nacht ist die Quilotoa Lagune, ein Kratersee auf knapp 4000m, eines der am meisten fotografierte Touristenziele Ecuadors. Kilometermäßig ist es nicht wirklich weit, aber es sind viele Höhenmeter zu bezwingen. Pro 1000m verzeichnen wir 10% Leistungsverlust, sodass wir inzwischen nur noch mit 60% Motorleistung fahren. Da sich ab einer gewissen Höhe der Siedepunkt von Wasser auf 80 Grad Celsius verringert, müssen wir auch den Kühler im Auge behalten, fahren dementsprechend deutlich langsamer als sonst und erreichen natürlich unser Ziel, die Lagune, nicht. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit halten wir am Straßenrand auf einer Stichstraße, die zu einem kleinen Gehöft führt. Von Ferne bellen Hunde, ein eisiger Wind fegt über die baumlose Landschaft, rüttelt an Roger. Wir kleben alle Lüftungsgitter ab, um es einigermaßen warm zu haben, kuscheln uns früh in die Decken, finden es gemütlich.
Mitten in der Nacht wache ich orientierungslos auf. Mir ist übel und schwindelig, ich habe Probleme zu atmen. Es fühlt sich an, als sitze ein Elefant auf meinem Brustkorb, ich kann die Enge im Bett kaum ertragen, setzte mich auf, öffne die Fenster um frische Luft hereinzulassen. Es wird ein bisschen besser, ich dämmere wieder in einen unruhigen Schlaf, habe Horrorträume, aus denen ich immer wieder aufschrecke. Im Laufe der Nacht wird meine Atmung immer schneller und flacher, Timm weckt mich, auch er hat Atemprobleme. Ich habe Schwierigkeiten zwischen Traum und Realität zu unterscheiden, bin leicht panisch, mein Herz fühlt sich an, als wolle es aus der Brust springen. Im Laufe des Tages hatten wir 2000 Höhenmeter überwunden, befanden uns nun auf 3800m. Vielleicht, vermutet Timm, war der Aufstieg doch zu schnell gewesen und wir hätten eine Nacht auf geringerer Höhe verbringen sollen, um uns zu akklimatisieren. Ab Höhen von 2000/2500m sinken Luftdruck und Sauerstoffgehalt der Luft. Der Lunge und somit dem Blut stehen weniger Sauerstoff zur Verfügung, es kommt zur Sauerstoffunterversorgung in dessen Folge Herzschlag und Atemfrequenz ansteigen. Bleibt die Sauerstoffversorgung der Organe über einen längeren Zeitraum unzureichend, kommt es zur Bergkrankheit, deren Symptome Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen, Schlafstörungen und im schlimmsten Falle ein Hirnödem sind. Als Faustregel gilt daher, die Schlafhöhe oberhalb von 2.500 Metern pro 24 Stunden nur um jeweils etwa 400 bis 500 Meter zu erhöhen. Daran hatten wir uns nicht gehalten und Timm beschließt, sofort wieder zurück Richtung Ambato zu fahren, um einen Schlafplatz auf 3000m zu finden. Mit jedem am Vortag mühevoll erkämpften Höhenmeter weniger geht es mir wieder besser und auf 3000m finden wir auf einem Truckerparkplatz endlich Ruhe.
Der Truckerparkplatz liegt außerhalb einer kleinen Stadt, in der am nächsten Morgen Markttag zu sein schein. Wir werden von Hupen und regem Treiben geweckt. Mit Möhren und Kartoffeln bis unter das Dach beladene Kleinlaster parken neben uns, ein Mofa hat lebendige Hühner mit einem Spanngurt auf dem Gepäckträger befestigt, ein paar weitere baumeln kopfüber in Schreckstarre vom Lenker. Auf der Ladefläche eines vorbeifahrenden Pick-ups liegen eine Kuh und ihr Kälbchen, auf der eines anderen drei fette Schweine. Nach einem schnellen Frühstück fahren wir erneut die gestern zwei Mal gefahrene Strecke.
Heute, und vielleicht ist das der Grund, warum wir die Strecke noch einmal fahren sollten, ist die Sicht phantastisch. Vor uns erstreckt sich ein eindrucksvolles Andenpanorama, 360 Grad Blicke auf die verschneiten Gipfel des „Who is Who“ der ecuadorianischen Vulkanriesen. Ansonsten ist die Landschaft karg, es fegt ein eisiger Wind, gegen den wir uns nur mit Mühe stemmen können. In einfachen Unterständen aus Holz und Plastikplane verkaufen Kinder Lauchzwiebeln, Karotten und Käse, auf den Äckern bearbeiten Frauen mit Hacken den dunklen Boden. Auch auf dem Feld tragen sie die Tracht der Kichwafrauen: wadenlange schwingende Röcke, die am Saum bestickt sind, wollenen Schultertücher und einen schwarzen oder braunen Hut. Dazu weiße oder hautfarbene Strumpfhosen mit Stiefeln oder Halbschuhen, nicht selten ein Baby im Tragetuch auf dem Rücken. Ihr dickes schwarzes Haar haben sie meist zu festen Zöpfen geflochten. Ihre Dörfer bestehen aus einer Ansammlung einfacher Adobehütten, manchmal hängt ein geschlachtetes Schwein kopfüber am Vordach, Kinder treiben Viehherden über die Straße, vorbei an der Schule, einem mit bunten Kinderfiguren bemalten Holzschuppen.
Nach einem kurzen Stopp am Canyon des Toachi Flusses, der entstand, als sich vor einigen tausend Jahren die pyroklastischen Ströme des Quilotoa Vulkans durch die Landschaft fraßen, erreichen wir endlich am späten Vormittag die Quilotoa Lagune.
Bevor wir das Dorf, welches die Lagune umgibt betreten dürfen, wird Roger desinfiziert und auch wir gehen durch ein Tor, werden mit einer Flüssigkeit besprüht und unsere Körpertemperatur wird gemessen und notiert. „Wir können sehr gerne über Nacht auf dem Parkplatz campen“, lächelt der Ticketverkäufer. Es sei nicht sehr voll im Moment und die meisten Touristen seien Tagesgäste.
Besagter Parkplatz ist nur wenige Gehminuten vom Rand des Kratersees entfernt und wir beschließen, dessen Umrundung auf den nächsten Tag zu verschieben, uns an die Höhe zu gewöhnen und stattdessen eine kleinere Wanderung die Kraterwand hinab an das Seeufer zu machen. Der Weg hinunter zur Lagune ist steil, stellenweise sehr rutschig. Der einst gut ausgebaute Pfad ist von den Hufen der Maultiere, welche müde Touristen von unten wieder nach oben tragen, stark beschädigt und wir brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis wir das Ufer des türkisblauen Sees erreichen. Mineralien sind für die intensiv grünblaue Färbung des 250m tiefen Sees verantwortlich, dessen basisches Wasser nicht trinkbar ist. Auch Schwimmen sollte man vermeiden, was bei einer Wassertemperatur von unter sechzehn Grad nicht reizvoll scheint. Der Weg hinauf dauert doppelt so lange wie hinunter, immer wieder müssen wir stehen bleiben und verschnaufen- auf fast 4000m durch den Mundschutz zu atmen ist eine ziemliche Herausforderung.
Schlafen hingegen stellt diese Nacht kein Problem dar und so stehen wir am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang mit gepackten Rucksäcken am Kraterrand. Im fahlen Morgenlicht erscheint die Lagune stahlblau, es weht ein kalter Wind, wir tragen mehrere Schichten Kleidung und Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 100. Zunächst ist der Weg noch breit und eben, bereits nach etwas mehr als einem Kilometer allerdings wird er schmaler, steiler. Die Kinder klettern und springen wie die Bergziegen am steilen Ufer über rutschige Kiesel, ich folge auf Art der Nilpferde. Die aufgehende Sonne malt zackige Schatten auf die nun türkisfarbene vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche, uns bieten sich Endlosblicke über Landschaft und den See.










Als wir nach drei Stunden Wanderung unsere Halbzeitpause machen, uns zwischen Wildblumen ducken, damit der Wind uns nicht über die Kraterwand fegt, als ich in die sommersprossigen Gesichter der Kinder, den blauen Himmel und die weite Landschaft blicke, ist sie zurück, die Freude am Abenteuer und verspricht, mich nicht mehr so schnell zu verlassen.





Bewundere euer Durchhaltevermögen, lese gerne auf eurer gut gestalteten Webseite über eure Unternehmungen, Erfahrungen, wirklich sehr kompetent erzählt, reise gerne mit. Viel Glück weiterhin.