„Sumak Kawsay in Situ“

zu Besuch auf einer Forschungsstation im Amazonasdschungel

Die Fahrt von Baños nach Puyo gilt als eine der schönsten Fahrstrecken des Landes. Sie führt vom Hochland der östlichen Andenkordilleren hinab in das Tiefland des Amazonas. Mit jedem Kilometer ändert sich die Vegetation, die Straße windet sich in Schlangenlinien, am Wegesrand stürzen Wasserfälle aus dichtem Urwald, immer wieder führt der Weg durch enge Tunnel, von deren Decken das Wasser plätschert und jedes Mal habe ich das Gefühl, den Kopf einziehen zu müssen.

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt öffnet sich der Canyon, der Rio Pastaza, mäandert in den Amazonasdschungel, es riecht wie bei Hagenbeck im Tropenhaus. Den Blick auf unendlich gerichtet, können wir die Dimensionen des Amazonasbeckens, das sich vor unseren Augen fast 4000 km bis zum Atlantik erstreckt, kaum fassen. Gänsehaut überzieht den gesamten Körper, inklusive Herzklappen und Magenschleimhaut. 

Kurz vor Mera durchfahren wir den kleinen Ort Shell. Er ist nach der gleichnamigen Ölgesellschaft benannt, die hier Ende der 1940er Jahre, nachdem das erste Mal im Oriente (wie der ecuadorianische Teil des Amazonasbeckens genannt wird) Öl entdeckt wurde, ein kleines Camp mit Flugplatz errichtete. Auch heute noch landen hier Charterflüge, die Reisende von hier aus in den Urwald bringen. Ecuador gilt als eines der artenreichsten Länder der Erde: Im Verhältnis zur Landesgröße existiert hier überdurchschnittlich viel Leben. Grund dafür sind vor allem die vielfältigen geografischen Begebenheiten. Hier in den Wolkenwäldern der Anden-Osthänge, wo der Lebensraum der Anden und der des Amazonasregenwaldes aufeinandertreffen, wo auf kleinem Raum großen Höhenunterschiede vorkommen, das Klima gleichbleibend feuchtheiß ist, finden unzählige endemisch vorkommende Arten einen Lebensraum. Man spricht hier von einem Megadiversitätshotspot. Fast alle weltweit vorkommenden Megadiversitätshotspots liegen in den Tropen im Vorland tropischer Hochgebirge, reichen von den Randgebieten der Tieflandregenwälder bis hinauf in die Zone der Wolken- und Nebelwälder. 

Ist die Natur in diesen Gebieten zudem besonders gefährdet, handelt es sich um einen Biodiversitätshotspot. Die Länder, in denen sich diese Hotspots befinden, bedecken weniger als 10% der Erdoberfläche, sind aber Heimat von 70% der weltweit vorkommenden Arten. Bis heute wurden 86% der Lebensräume in den weltweiten Biodiversitätshotspots durch den Menschen zerstört. So auch in Ecuador. Obwohl der politische Wille, diese Lebensräume zu schützen erkennbar ist, fehlen wie so oft in Entwicklungsländern, die finanziellen Mittel. Meist setzten sich daher wirtschaftliche Interessen durch. Auch wenn z.B. Touristenlodges im Regenwald und Naturtourismus ein lukratives Geschäft sind, indigenen Gemeinden ein Einkommen sichern und sogar große Gebiete vor der Zerstörung bewahren können, gewinnt am Ende doch immer wieder der größte Feind des Oriente: die Erdölförderung. 

2007 bot die ecuadorianische Regierung an, auf die Erdölförderung im Yasuní Nationalpark (größter Nationalpark Ecuadors, seit 1989 UNESCO Biosphärenreservat) zu verzichten, wenn die Weltgemeinschaft die Hälfte des zu erwartenden Gewinnes aus der Erdölförderung beisteuern würde, um diesen nachhaltig in den Regenwaldschutz zu investieren. Man gründete zu diesem Zweck das Waldschutzprogramm „Programa Socio Bosque (PSB)“, welches indigene Gemeinden und private Waldbesitzer gegen Geldzahlungen mit langfristigen Verträgen zum Waldschutz verpflichtet. Obwohl die Nachfrage nach diesen Verträgen groß ist, sie den Bewohnern eine Alternative zur landwirtschaftlichen Nutzung, sowie zur illegalen Holznutzung bietet, wird seit 2013 im Yasuní wieder nach Erdöl gebohrt. Die Weltgemeinschaft steuerte nicht einmal einen Bruchteil des benötigten Kapitals bei, weil sie sich vom damaligen Präsidenten Correa erpresst gefühlt hatte. Der drohte nämlich, sofern die Gelder ausblieben, sofort mit den Bohrungen zu beginnen, was er dann 2013 auch tatsächlich tat. Mit katastrophalen Folgen: Leckagen verseuchen Wasser und Böden, Mitarbeiter der Erdölfirmen und illegale Holzfäller bringen Krankheiten in die Gebiete des Waldes, in denen noch Völker in der „Zona Intangible“ (der unberührbaren Zone) in selbstgewählter Isolation leben. Zwar wehren sich indigene Gruppen gegen die Ausbeutung, pochen auf das in der ecuadorianischen Verfassung festgeschriebene „Recht auf die Existenz und Aufrechterhaltung der Natur“, ohne Lobby und Unterstützer aber, die sich in der modernen Welt Nachdruck verleihen können, ist ihr Kampf aussichtslos. Und sobald eine Straße in den Wald führt, ist er verloren, nimmt die Ausbeutung ihren Lauf.

Jetzt zu Coronazeiten, da sind wir uns einig, werden wir nicht tief in den Dschungel vordringen können und wollen. Umso dankbarer sind wir, als wir auf die Forschungsstation „Sumak Kawsay in Situ“ eingeladen werden. „Sumak Kawsay“ ist wie das „Pura Vida“ Ecuadors, bedeutet so viel wie „das gute Leben, welches durch die friedliche Koexistenz zwischen Mensch und Natur entsteht“. Es ist das Motto vieler Oriente Bewohner und aller, die auf der Forschungsstation leben. Henry, der Besitzer der Lodge und Forschungsstation hat schon vor 15 Jahren, als viele Nachbarn begannen, ihr Land an die Ölgesellschaften zu verkaufen, seine Familie davon überzeugen können, in den Schutz des Waldes zu investieren. Er kaufte so viel Land, wie er konnte dazu, forstete die landwirtschaftlichen Flächen wieder auf. Er hat sich dem Erhalt dieses Lebensraumes verschrieben, arbeitet inzwischen mit Nachbarn in einer Initiative, die die fortschreitende Zerstörung des Regenwaldes verhindern soll. Vor zwei Jahren kam Alex, ein Biologe aus den USA nach „Sumak Kawsay in Situ“, ist seitdem der wissenschaftliche Leiter der Dschungelstation. Normalerweise kommen hierher Touristen, die mehr über die ökologische Vielfalt des Dschungels erfahren möchten oder Studenten, die hier eigene Forschungen betreiben und Alex bei seiner Arbeit unterstützen, sowie Forscher, die eigenen Projekten nachgehen. Die Forschungsstation ist der erfolgreiche Versuch, aktiven Naturschutz, Wissenschaft und nachhaltigen Tourismus unter einem Dach zu vereinen, sensibilisiert lokale Gemeinden für das Potential, das jenseits der Landwirtschaft und Ölförderung liegt. Henry und seine Familie sind Pioniere auf diesem Weg und wir können es kaum erwarten, sie kennenzulernen.

In Mera parken wir Roger auf dem bewachten Innenhof eines der wenigen offenen Hotels, steigen nach dem Packen und einem Mittagessen auf die Ladefläche eines Pickuptaxis und fahren auf Schotter- und Schlammpisten tiefer hinein in den Regenwald. Als wir die letzte Siedlung hinter uns gelassen haben, schließt sich das Blätterdach über uns, es fühlt sich an, als führen wir in einem grünen Schlund direkt in den Bauch des Waldes.

Nach etwas mehr als einer Stunde Fahrt endet der Weg an einem quer liegenden Baumstamm und wir müssen absteigen. Aus den Schatten der Bäume treten drei Männer, helfen uns beim Abladen unseres Gepäckes. Sie begrüßen uns herzlich, freuen sich über den ersten offiziellen Besuch seit des Lock-Downs. Henry begrüßt uns mit dem Händedruck eines Mannes, der fest zupacken kann. Alex und Diego, der die Forschungsstation gerade um einen Permakulturgarten erweitert hat und hierzu ebenfalls Projekte anbieten möchte, verteilen Gummistiefel. Timm, der außer zum Joggen oder schlafen niemals seine Blundstones auszieht, zögert. Erst ein Blick auf die Füße und Hosenbeine von Henry, Alex und Diego überzeugt ihn: Sie sind bis über die Knie schlammverkrustet. Diego schultert eine Kühltasche mit den Ausmaßen unserer heimischen Gefriertruhe und stapft voran. Nur schwer können wir mithalten, kämpfen uns schniefend und schnaufend durch den knietiefen Matsch. Immer wieder bleiben unsere Gummistiefel stecken, nur unter größtem Kraftaufwand bekommen wir sie wieder frei. Mehrmals fallen die Kinder hin. Alles, was auf „Sumak Kawsay in Situ“ gebraucht wird, erzählt uns Alex, muss auf die Station geschleppt werden: Seife, Nahrungsmittel, Benzin für den Generator, Nahrung, Kerzen, Ersatzteile, wissenschaftliches Gerät, Matratzen, Baumaterial. Für die drei ist es eine Routineaufgabe und Alex, Henry und Diego springen elegant von Stein zu Stein, balancieren über umgefallene Baumstämme, der Schlamm scheint ihnen keine Mühe zu machen. Wir folgen mit der Eleganz betrunkener Pinguine, fühlen uns, als joggten wir auf Highheels über einen zugefrorenen See. 

Nach ca. 40 Minuten Fußmarsch lichtet sich der dichte Wald, vor uns erscheint ein zweistöckiges Haus mit Blechdach. Es hat keine Außenwände, ist eigentlich ein Dach auf Stelzen mit einer offenen Galerie im zweiten Stock. Ein tiefer Graben schützt das Untergeschoß des Hauses vor Überschwemmungen durch den täglichen Regen. Meistens sind es kurze Schauer, die allerdings bringen bis zu 5 l/qm im Jahr. Die letzten Reste des heutigen Regens befinden sich als Schlammschicht im Graben, Dampf steigt von den Baumwipfeln und dem Dach auf. Jenseits des Grabens versinkt das Gelände um die Lodge im Schlick, ein Bretterpfad führt zu einem weiteren Gebäude, in dessen zweiter Etage sich das neue Labor befindet. Hühner scharren auf dem Boden, aus dem Garten zwitschert es und der langezogene Pfeifton der Zikaden ist so ohrenbetäubend, dass ich mich ganz nah an Alex stellen muss, um ihn zu verstehen.

Seine Spezialität, so erzählt er, seien Schlangen, insbesondere Vipern, Lurche und Frösche, die hier in dieser Zone in der der das Amazonastiefland und die Ausläufer der Anden aufeinandertreffen, besonders vielfältiger Form zu finden sind. Seit er 5 ist, liebt er Schlangen, hatte als Teenager gegen die anfänglichen Zweifel seiner Mutter irgendwann das gesamte Haus mit Terrarien vollgestellt. Vor ein paar Jahren war er als freiwilliger Helfer auf der Station, etablierte dann bei seiner Rückkehr vor zwei Jahren den wissenschaftlichen Zweig der Station, die bis dahin eine Logde war. Er bezeichnet den Dschungel als sein Habitat, der Ort, an dem er 100% er selbst sein kann. Alex wirkt, wie man sich einen Wissenschaftler vorstellt: Erzählt er von Schlangen, beginnen seine Augen zu leuchten, er bekommt einen entrückten Blick. Seine Schuhe, seine Regenjacke und seine Funktionshose sind an löchrigen Stellen mit Panzertape geflickt, die Hosen mehrfach sehr offensichtlich selbst wieder zusammengenäht. Äußerlichkeiten interessieren ihn nicht. Das Leben hier sei nicht einfach, aber auf Komfort zu verzichten fiele ihm nicht schwer, sagt er. Hier ist es ständig feucht, es wimmelt von Mücken und Krabbeltieren, der Fußboden besteht aus gestampftem Lehm, Strom erzeugt ein 900 Watt Generator, der nur im Notfall angeworfen wird. Ebenso wie das Gas zum Kochen muss jeder Liter Benzin mühevoll durch den Dschungel geschleppt werden. Wenn es dunkel wird, sind Kerzen und Öllampen die einzige Beleuchtung. Getrunken wird gefiltertes Regenwasser, einen Kühlschrank gibt es nicht. Dieser allerdings, und Solarpaneele wären die nächste wichtige und wahrscheinlich lebensverändernde Anschaffung für die Forschungsstation. Es gibt kein Internet, nur Handyempfang von einer Anhöhe etwas abseits der Lodge. Braucht Alex Internet, fährt er für ein paar Tage nach Puyo in ein kleines Apartment, das der Familie von Henry gehört. Geschlafen wird in Zelten oder unter Moskitonetzen auf der zweiten Etage des Hauptgebäudes und des Laborgebäudes, das sie während der Quarantänezeit seit März gebaut haben.

Auch wir schlafen in Zelten auf der zweiten Ebene des Haupthauses- die Kinder zu viert in einem großen, Timm und ich zu zweit in einem kleineren. Die Decken und Matratzen sind klamm, riechen nach Keller und Schimmel, auf der Zeltwand zeichnen Stockflecken aufwändige Muster. Und doch möchte ich diesen Schlafplatz mit keinem 5-Sternehotel der Welt eintauschen. Als ich mein Bett hergerichtet, die Batterien meiner Kopflampe ausgewechselt und das Regenzeug für die geplante Nachtwanderung bereitgelegt habe, lege ich mich einen kleinen Moment hin, lausche dem Tropfen, Quaken und Zirpen des Dschungels, freue mich auf das Abendessen, dessen köstlicher Geruch mir aus dem Erdgeschoss in die Nase steigt. Die Küche ist das Reich von Mamita, Henrys Mutter, einer kleinen Frau mit lebhaft blitzenden Augen. Sie hat uns eine Suppe mit Yuka und Avocado, gebratene Schweinekotelettes mit Reis und Salat, zum Nachtisch Ananas und Papaya bereitet. 

Nach dem Abendessen sitzen wir, ausgestattet mit Kopflampen, Regenhosen und Gummistiefeln um den Esstisch, lauschen im Schein der Kerzen und Petroleumlampen Alex‘ Erklärungen. Fünf mal in der Woche geht er zu verschiedenen Zeiten die immer gleichen Pfade im Dschungel, dokumentiert Datum, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Uhrzeit, das Wetter, welche Tiere er sieht, wo und in welcher Anzahl er sie vorgefunden hat. Das ist wichtig, um Rückschlüsse auf Artenvorkommen, Verhaltensweisen und Veränderungen ziehen zu können. Er unterteilt hierbei den Weg in unterschiedliche Zonen: Feucht-und Trockenwald, Primär- und Sekundärwald, also Urwald und wiederaufgeforstete Flächen. Heute sind Lotta und Paula zuständig für die Dokumentation, Max soll den Behälter für die gefundenen Tiere tragen. Wir werden, so Alex, hauptsächlich nach Schlangen und Fröschen suchen. Vipern, die Schlange, auf die es Alex vor allem abgesehen hat, sind wie ihre Beutetiere, nachtaktiv. Wir sollen unbedingt darauf achten, wo wir hintreten, nie nach einem Ast greifen, um uns festzuhalten, selbst wenn das bedeutet, dass wir im glitschigen Gelände hinfallen. Normalerweise machen mir weder Dunkelheit, noch dichter Wald oder Krabbeltiere Angst. Mit meinen Kindern durch den nächtlichen Urwald zu laufen, zu wissen, dass links und rechts giftige Vipern lauern und es meine Aufgabe ist, diese aufzuspüren, macht mich aber nervös. Normalerweise versuche ich, Schlangen aus dem Weg zu gehen, bewege mich extra laut, um ihnen die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Das aber sollen wir jetzt nicht tun. Im Amazonas zählen Vipernarten zu den am meisten gefürchteten Schlangen. Sie besitzen mit der ebenfalls gefürchteten Buschmeister die größte Menge Gift der Amazonas-Schlangen. Mit bis über zwei Metern Körperlänge können sie sehr groß werden, sind leicht erregbar, bewegen sich schnell und sind extrem giftig. Hier sind sie für den Großteil der Vergiftungen durch Schlangenbisse und jährlich für zahlreiche Todesfälle verantwortlich. Viele Patienten, die den Biss überleben, bleiben durch schwerste Gewebezerstörungen und Gliedmaßenverluste lebenslang behindert. Nach starken Regenfällen ist sie durchaus auch auf Ästen in Bäumen anzutreffen. Alex merkt, dass ich mich unwohl fühle, versucht, mich zu beruhigen. Schlangen seien eine der am meisten missverstandenen Tierarten. Er habe täglich mit ihnen zu tun, noch nie wurde er gebissen. Wir sollen ihn vorgehen lassen und einfach die Natur genießen. Ich beschließe, ihm zu vertrauen und mich auf den Wald und seine Geschöpfe einzulassen. 

Inzwischen haben sich die Wolken ausgetobt, Millionen Sterne glitzern durchs Blätterdach, wir versinken im Matsch, der hier noch zäher ist, als der Matsch heute Morgen auf dem Weg zur Lodge. Mit Alex mitzuhalten, für den das hier scheinbar ein Spaziergang durch seinen Garten ist, ist eine Herausforderung. Vor ein paar Tagen hat Alex mit einer Wildkamera einen Jaguar gefilmt, berichtet er, sagt, dass auch wir heute Nacht eine Kamerafalle aufstellen werden, um zu sehen, ob er sich noch in der Nähe befindet. Der Bewuchs ist so dicht, dass ich unmöglich einen Jaguar erkennen würde, wenn er zwei Meter neben mir steht. Wie soll ich da eine Viper erkennen, deren Farbe perfekt auf die Umgebung abgestimmt ist?

Plötzlich bleibt Alex stehen, per Handzeichen bittet er uns, ebenfalls zu stoppen. Mein Herzschlag, verdoppelt seine Geschwindigkeit. Alex‘ Hand schnellt in Richtung eines Blattes, auf dem ich nichts erkennen kann, blitzschnell greift er zu. Er zeigt den Kindern einen winzigen durchsichtigen Frosch, der aussieht, wie aus Glas gearbeitet. Er freut sich, sagt, dass dies eine sehr seltene Art ist. Auch die Kinder freuen sich, jedenfalls bis zu dem Moment, als Paula die Frage stellt, was er nun mit dem Frosch machen wird. Der Plan ist, ihm Alkohol injizieren, um ihn möglichst schnell und schonend zu töten, ihn dann in ein grosses Schraubglas mit Alkohol zu ein paar Artgenossen zu legen, um ihn dann zum Museum nach Quito zu schicken, die weitere Forschungen betreiben werden. Max trägt den Froschbehälter und ich sehe, wie es in seinem kleinen Kopf arbeitet, wie er hin und hergerissen ist zwischen seiner Aufgabe und dem Bedürfnis, dem kleinen Frosch das Leben zu schenken. Als wir bei unserem nächsten Stopp zwei sehr kleine braue Frösche erblicken, die Alex, weil sie sehr häufig vorkommen, nur fotografiert, möchte Max wissen, ob es ihm nicht leidtut, die Frösche zu töten. „Natürlich  tut mir das leid, aber es ist Teil der Wissenschaft“. Sein allergrößtes Ziel sei der Schutz dieses Lebensraumes und aller hier lebenden Arten und ab und zu muss er dann das Opfer bringen, auch einmal welche zu töten, damit man sie erforschen kann. Max kleinen Hände krampfen um den Froschbehälter, es kämpft in ihm. 

Wir finden noch viele Frösche ( und zum Glück keine Schlange) in dieser Nacht, Alex zeigt den Kindern, wie man sie fängt, ohne sie zu verletzen, erklärt ihnen wie sie leben, was besonders an ihnen ist. Als wir zum Ende unserer Dschungelwanderung noch ein paar Frösche fangen, die den Schlangen im Terrarium als Nahrung dienen werden, stellen sich die Kinder zwar deutlich ungeschickter an, als ich es von ihnen gewohnt bin, aber sie haben verstanden, dass auch die Vipern im Terrarium essen müssen. 

Bei unserer Ankunft in der Lodge prasselt ein Lagerfeuer unter dem Dach des Laborhauses. Auf mit Sand gefüllten Reissäcken kuscheln wir uns zusammen, halten die durchgeweichten Füße in den warmen Feuerschein. Diego, der im Halbdunkel noch mehr aussieht wie „Jack Sparrow“, spielt Gitarre, Alex‘ Freundin singt dazu, auf unserem Schoss rollen sich die zwei Hundebabys der Station zusammen, aus dem Dschungel ertönt Quaken und Zirpen, die Welt ist perfekt, scheint perfekt. Denn auch hier ist das Paradies in Gefahr. Eine Erdölfirma hat das Nachbargrundstück gekauft, will hier im nächsten Jahr keine 200m Luftlinie von der Lodge entfernt nach Öl bohren. Dann werden hier Tag und Nacht Feuer brennen, welche die Luft mit ihrem Rauch verschmutzen. Das Dröhnen der Förderanlagen wird den Gesang der Vögel und Zikaden überstimmen. Trotz der düsteren Aussichten aber, geben sich Henry und Alex nicht geschlagen, organisieren erfolgreich lokalen Widerstand. Es steht viel auf dem Spiel, denn hier sammelt sich das Wasser aus den Berge in unterirdischen Reservoirs und Höhlensystemen. Ein Leck in einer Leitung, das Austreten von Erdöl, wie es so oft passiert, hätte fatale Folgen und würde die Wasserversorgung für tausende von Menschen verseuchen, könnte das Ende dieses Garten Edens bedeuten.

Am nächsten Morgen bin ich schon vor Sonnenaufgang wach, schaue den Andenketten dabei zu, wie sie aus der Dunkelheit krabbeln. Mich erfüllt ein tiefer Frieden, jedenfalls bis mein Darmgrummeln mich zwingt, möglichst schnell eine Toilette aufzusuchen. Max geht es ähnlich. Anscheinend bekommt uns das Wasser hier nicht. Das geht vielen so, beruhigt uns Mamita. 

Nach dem Frühstück treffen wir Alex im Labor und werten das Material der ausgetauschten Kamerafalle aus. Auch auf dieser ist ein Jaguar zu sehen, ob es derselbe ist, muss Alex noch genauer untersuchen. Da wir gestern keine Schlangen gefangen haben, hat Alex ein paar seiner Lieblinge mitgebracht, damit die Kinder sie aus der Nähe betrachten können. Aus einem Stoffbeutel holt er seine Boa Constrictor, legt sie Paula um den Hals. Wir streicheln deren kühle, glatte und erstaunlich samtige Haut, fühlen die kräftigen Muskelstränge, mit denen sie ihre Opfer erwürgt. Boas sind entspannte und wenig aggressive Schlangen, wenn sie satt sind, sogar sehr träge. Anders allerdings verhalten sich die Vipernbabys, die Alex aus einer Tupperdose holt und auf den Tisch legt. Sie sind sehr agil, wuseln durcheinander und auch wenn sie noch klein sind, ist ihr Gift schon ziemlich stark. Diese Schlangen sind hier in Gefangenschaft geboren. Ohne es zu wissen hatte Alex ein schwangeres Weibchen gefangen. Bei den Vipern kommen sowohl lebend Gebärende sowie eierlegende Arten vor. Die Bestimmung, ob es sich bei verschiedenen Exemplaren um differenzierte Arten, Kreuzungen oder einfach verschiedenen Erscheinungen derselben Art handelt, ist ein Schwerpunkt von Alex’ Arbeit. Es ist keine leichte Aufgabe, da Färbungen und Ernährungsvorlieben auch innerhalb einer Art je nach Lebensraum, Alter und Geschlecht stark variieren können. So sind zum Beispiel die Männchen einiger Viperarten deutlich kleiner und mit der geringeren Größe haben sie auch andere Ernährungsvorlieben. So behalten sie, anders als die Weibchen, die grüne Schwanzspitze aus der Jugend, mit deren Hilfe sie einen Grashalm oder ein Insekt imitieren, um damit Insekten und kleine Amphibien, ihre Hauptnahrung zu fangen. Weibchen hingegen ändern im Laufe des Lebens ihr Beuteschema und fressen dann hauptsächlich Amphibien und kleinere Säugetiere und die Schwanzspitze verliert ihre Färbung. Anders als zum Beispiel Nattern, deren Giftzähne feststehen, haben Vipern ausklappbare Giftzähne. Durch die Öffnung des Maules erscheinen die Giftzähne mittels Hebelwirkung aus einer Hauttasche im Maul. Verlieren sie einen Giftzahn, wächst aus zweiter Reihe ein neuer nach. Damit wir die Giftzähne und die Musterung der großen Mutterschlange gefahrenfrei untersuchen können, steckt Alex sie kopfüber in ein durchsichtiges Plastikrohr. Für jede Schlangenart und -größe hat Alex ein anderes Rohr. Obwohl es noch früh am Morgen ist, die Schlange satt und durch das noch kühle Blut weniger agil ist, reißt sie, sobald sie in der Röhre steckt ihr Maul weit auf und spritzt eine Ladung Gift an deren Außenwände. Die Kinder weichen einen Schritt zurück, und die Enttäuschung, gestern Abend keine Schlange gefangen zu haben schwindet bei uns allen. Ich werde, da bin ich mir sicher, niemals meine Angst vor Schlangen verlieren und auch die Kinder fühlen sich in deren Nähe nicht wirklich wohl. Sie aus Angst zu töten allerdings, käme für keines der Kinder jemals in Frage. Wir alle sind überzeugt, dass es wundervolle, faszinierende und sicher auch falsch verstandene Geschöpfe sind- ein Blick in Alex Augen während er die Schlange liebevoll aus der Röhre in den Baumwolltransportsack verfrachtet, überzeugt davon. 

„Ich glaube, Alex spricht wie Harry Potter auch Parsel, die Sprache der Schlangen, deswegen hat er keine Angst vor ihnen“, dessen ist sich Max sicher, als wir ein paar Tage später wieder in Roger am Essenstisch sitzen. Alle Kinder bewegt der Besuch auf der Dschungelstation nachhaltig, alle gehen in den folgenden Tagen wacher, ehrfurchtsvoller durch den Wald, haben einen viel differenzierteren Blick für all das Leben um uns herum. 

Ecuador

10 Comments Hinterlasse einen Kommentar

  1. Liebe Michaela, liebe Familie,
    Es ist immer wieder so schön Euren Blog zu lesen.
    Wir lieben Deine Art zu schreiben und sind immer ganz gespannt auf Eure Erlebnisse.
    Auch wenn es irgendwie komisch klingt wünschen wir Euch einen schönen ersten Advent und bleibt bitte alle gesund.
    Liebe Grüße aus Sarstedt von Mario + Meike

  2. Liebe Michaela, danke für den wunderschönen Beitrag – wir hatten beim Lesen das Gefühl, live dabei zu sein. Wir denken schon darüber nach, in unserem Sabbatical nicht nur die Galápagos-Inseln zu besuchen, sondern auch wie ihr eine Zeit lang in den Amazonas-Dschungel zu reisen. Eure Reise ist eine tolle Inspiration für uns! Wir wünschen euch weiterhin tolle Erlebnisse und hoffen so sehr, dass wir trotz Corona noch aus Europa herauskommen. Liebe Grüße, Susanne & Familie

    • Hallo Susanne, es freut mich sehr, wenn unsere Reise zum Nachmachen anregt. Wenn ihr die Chance habt, in ganz Ecuador zu reisen, kann ich Euch das nur empfehlen. Das Land hat so viel auf so kleinem Raum zu bieten, man fühlt sich mehrfach am Tag in einem anderen Land. Vom Amazonas über die Sierra an den Pazifik zu fahren kann man an einem Tag schaffen, wo geht das sonst?Ich glaube Euer Sabbatical ist ihr phantastisch aufgehoben. Liebe Grüße und viel Freude beim Planen. Bei Fragen, immer her damit 🙂

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